„CHINAS ANSEHEN STEIGT VON TAG ZU TAG“

■ „Der Prozeß gegen den Schriftsteller Wei Jingsheng“ im Hebbeltheater

Nehmt gute Schauspieler, wenn ihr das auf die Bühne bringt!... Schauspieler, die es schaffen, einem Text, der zunächst un-sinnlich ganz 'ohne Fleisch‘ daherzukommen scheint, eine Sinnlichkeit zu geben.“ Diesen Rat gab Ariane Mnouchkine 1986 weiteren Aufführungen ihrer „szenischen Einrichtung des Prozesses gegen den chinesischen Dissidenten Wei Jingshen“ mit auf den Weg. Ein Ratschlag, der inzwischen blutig von der Geschichte eingeholt - bei der Berliner Inszenierung durch die Taiwan-Chinesin Hsien-Chen Chang Gehör fand. Zum Erlebnis wird der hermetische Schauprozeß nicht in erster Linie durch das statische Bühnenbild (für die Aufführung im Hebbeltheater wurde ein neues Szenario erarbeitet), längst nicht durch die obligatorische Video-Offerte an des Zuschauers Sehgewohnheiten, umso mehr indes durch die reglose Strenge immer schon besser wissender Mimen hinter den Altaren des Volksgerichts. Mimen, die den Ton so genau treffen, daß sie selbst über wiederholte Versprecher hinwegschauen lassen. Wolfram Koch und Roland Strehlke, Richter und Staatsanwalt, gelang da eine geradezu magische Mimesis neben den beiden im Stück nahezu sprachlosen Chinesinnen, der Regisseurin Hsien -Chen Chang als Beisitzerin, und Ying Li Ma. Als durchgestylte Exotin posiert Ying Li Ma nicht vor, sondern hinter der Videokamera, mit der sie sich an Akteure und Publikum herantastet und Blicke in Richtungen wendet, die sie sonst nicht gefunden hätten. Es sind beziehungslose Blicke zwischen den Vertretern des Gerichts, eines Gerichts, das ein Volk von 900 Millionen Bürgern vertritt, und einem einzelnen, dem Schriftsteller Wei Jingsheng (Fritz Eggert), der dessen Legalität anzweifelt.

„Wenn ein Volk von mehreren 100 Millionen Bürgern nicht die Demokratie ist, dann sollen wohl deine persönlichen Ansichten, die Ansichten des Wei Jingshen, die Demokratie sein?“ schließt die Beisitzerin. Und Deng Xiaoping schloß sich noch im Dezember 1986 an: „Wir haben Wei Jingshen hinter Gitter gesteckt. Na und? Hat das etwa Chinas Ansehen geschadet? Keinesfalls! Im Gegenteil: Wir haben ihn nicht freigelassen, und trotzdem steigt Chinas Ansehen von Tag zu Tag.“

Nachdem Deng Xiaoping am 16.März 1979 der gerade aufkeimenden Demokratisierung der chinesischen Gesellschaft eine Absage erteilt hatte, brachte Wei eine Sondernummer seiner Zeitschrift 'Erkundungen' unter dem Titel „Wollen wir Demokratie oder eine neue Diktatur“ heraus. Darin bezeichnet er Deng Xiaoping als Arrivisten und Emporkömmling, der sich um nichts anderes kümmert als um seine ganz persönliche Diktatur. Vier Tage später wurde Wei Jingsheng verhaftet. „Im heutigen China, wird es, wenn man tatsächlich die Demokratie verwirklichen will, mit Sicherheit Widerstände geben und Saboteure zuhauf, man wird mit beträchtlicher Obstruktion rechnen müssen! Unter diesen Bedingungen wird man es riskieren müssen, sein Blut zu vergießen, und man wird sein Leben aufs Spiel setzen müssen“, sah der Angeklagte voraus. In den vergangenen zehn Jahren durfte Wei Jingshen nur einmal besucht werden. Seine beiden Schwestern fanden den bei seiner Verhaftung 29jährigen als gesundheitliches Wrack vor: fast ohne Zähne sowie schwer herz- und nierenkrank.

„Der Text ist eine 'dazhibao‘ (Wandzeichnung) auf dem Theater“, kommentiert Mnouchkine die Anstrengung, in minutiöser Kleinarbeit mit Hilfe von Tonbandaufzeichnungen, den Text des Prozesses zu rekonstruieren, der in China niemals veröffentlicht wurde. Während der Fernsehübertragung des Schauprozesses wurde der Ton bei Wei abgestellt.

Rings ums Auditorium im Schwuz hängen die dazhibaos wie Tapeten von den Wänden. So konkret sich die dort angebrachten Zeichen dem deutschsprachigen Publikum verschließen, so abstrakt erschließen sich die wilden Pinselstiche auf den Gerichtspulten als unleserliche Struktur. Für die meisten von uns wurde erst in den letzten Wochen sinnlich erfahrbar, zu welch kalt rationalistischem Handeln diese Sprachschablonen taugen. „Im Bestreben, das sozialistische System zu verteidigen, die Diktatur des Proletariats zu stärken, die einvernehmliche Verwirklichung der sozialistischen Modernisierung zu fördern und jede Sabotage konterrevolutionärer Art zu unterdrücken und auf Grund der Festlegung diverser Artikel der Regeln zur Unterdrückung von Konterrevolutionären“, verkündet der Richter am 16. Oktober 1979 das Urteil: 15 Jahre Haft, nach deren Ableistung Wei für einen Zeitraum von drei Jahren seiner bürgerlichen Ehrenrechte verlustig geht.

Simone Lenz

„Der Prozeß gegen den Schriftsteller Wei Jingsheng“, heute um 21 Uhr im Hebbeltheater.