Zwei Schritte vorwärts und zwei zurück

Der Moskauer Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Schmeljow warnt vor wirtschaftlichem Zusammenbruch der UdSSR  ■ I N T E R V I E W

taz: Das Wirtschaftsproblem, die Reform der Ökonomie, wird im Augenblick, so scheint es, in der Sowjetunion hintangestellt. Immerhin soll jetzt der Rüstungshaushalt drastisch gekürzt werden.

Nikolai Schmeljow: Wir haben ein großes Haushaltsdefizit, ein Defizit von mehr als 100 Milliarden Rubel. Das muß so schnell wie möglich abgebaut werden. Die Kürzung der Rüstungsausgaben ist nur ein erster Schritt. Dazu gehört, daß geplante Großprojekte gestoppt werden, die kurzfristig die Situation nicht verbessern. Wenn sie sich an das Projekt der Umleitung sibirischer Flüsse erinnern können, so sind da schon Entscheidungen in diese Richtung gefallen. Wir müssen auch die Subventionen bei unrentablen Betrieben kürzen oder sogar ganz begrenzen. Der Schwarzbrennerei muß der Garaus gemacht werden, es ist ja ein riesiges Haushaltsloch durch die Antialkoholkampagne entstanden. Auch bei den Importen gibt es Probleme. Ganze Industrieausrüstungen wurden eingeführt, jedoch niemals aufgestellt. Die vergammeln einfach irgendwo auf den Transportwegen. Dagegen müßten wir auch mehr Konsumgüter importieren. Wir müssen bei all den Wirtschaftsmaßnahmen die Stimmungslage in der Bevölkerung einbeziehen.

Würde das nicht auch eine neue Verschuldung nach sich ziehen?

Ja, wir müssen das sorgfältig prüfen. Doch werden wir auf mittlerer Sicht nicht ohne Anleihen aus dem westlichen Ausland auskommen. Ich glaube z.B. nicht an Joint-ventures. Es gibt über 300 solcher geplanten Joint-ventures, aber nur 60 funktionieren. Ich ziehe dieser Art der wirtschaftlichen Kooperation die Einfuhr von Kapital vor. Vielleicht können wir in Zukunft auch rein ausländische Firmen zulassen, aber für die nächsten zehn oder 15 Jahre müssen wir Kapital importieren. Vordringlich müssen wir Fortschritte in der Landwirtschaft machen, wir müssen der Kooperativbewegung mehr Spielraum geben und die Importe steigern. Dann können wir die Situation in nächster Zeit verbessern.

Gerade was die Versorgung betrifft, ist ja das große Problem die Landwirtschaft. Wie können Beschlüsse, z.B. das Pachtsystem einzuführen, umgesetzt werden?

Wir brauchen Verbesserungen in nächster Zukunft, in den nächsten zwei bis vier Jahren. Die Herstellung von Konsumgütern muß Priorität haben. Auf der ZK-Konferenz wurden die Probleme angesprochen. Dazu genügt es nicht, das Pachtsystem auf zehn Jahre festzulegen. Was wir brauchen, sind längere Fristen, so daß die Bauern auch sicher sein können, daß ihre Pachten auch vererbbar sind. Für viele Kolchosenbauern ist es doch immer noch so, daß der Kolchosenvorsitzende wie ein Großgrundbesitzer auftreten kann. Bei den bisherigen Vorschlägen zum Pachtsystem ist noch nicht gesichert, daß die Kolchosenbauern wirkliche Unabhängigkeit von dieser Struktur erreichen. Auch müssen die Bauern Zugang zum freien Markt haben. Das ist jetzt noch nicht durchgesetzt, sondern in Aussicht gestellt. Ähnlich steht es bei der Gründung von Kooperativen. Noch immer sind sie Anhängsel der bisherigen Ökonomie und nicht die Regel. Wir gehen zwei Schritte nach vorne und wieder zwei Schritte zurück.

Wie realistisch ist denn die Umsetzung Ihrer Vorschläge? Sie sagten ja, das sei Ihre persönliche Meinung.

Ich kann nur hoffen, daß die jetzige Regierung die Fragen des Haushalts versteht. Meines Erachtens ist das bislang noch nicht in ausreichendem Maße geschehen. Die bisherige Wirtschaftspolitik zielt darauf, das Haushaltsdefizit um 20 bis 25 Prozent zu verringern, obwohl 75 bis 80 Prozent unbedingt nötig wären. Die Kürzungen des Haushalts dürfen jedoch nicht zu Lasten des sozialen Netzes unserer Gesellschaft gehen.

Interview: Erich Rathfelder