MOBILMACHUNG

■ Tourismuspolitik bei den Grünen: Der weiße Fleck soll weg

Das alte Paar und das Meer: Ein alter Mann und eine alte Frau mit Strohhüten sitzen in Campingstühlen einträchtig nebeneinander am Strand. Sie schauen - dem Betrachter den Rücken weisend - auf das Meer. Geschützt werden sie von einem Schirm, auf dem eine Sonnenblume prangt. So das beschauliche Titelbild der 36seitigen hektographierten Diskussionsvorlage Für einen anderen Tourismus.

Mit ihr wollen die Grünen im Deutschen Bundestag Land gewinnen und endlich - auch tourismuspolitisch gesehen - auf den grünen Zweig kommen. Denn die Fremdenverkehrspolitik so die offizielle Bezeichnung diese Politikfeldes - ist bis dato Terra incognita für grüne Politik gewesen. „Tourismus ein weißer Fleck bei den Grünen!“, schreibt denn auch folgerichtig im Vorwort selbstkritisch die Initiatorin der grünen tourismuspolitischen Mobilmachung, die bayerische Bundestagsabgeordnete Halo Saibold. Zwar hätten die Grünen durchaus die negativen ökologischen und sozialen Auswirkungen des bedeutenden Wirtschaftsfaktors Tourismus erkannt. Bisher wären aber nur punktuelle Ansätze (Verkehr, Raumordnung, Umwelt) und regionenspezifische Vorstöße (Nordsee, Alpen, Dalyan-Bucht in der Türkei) gemacht worden. Daraus, so Halo Saibold, ergab sich zwingend die Notwendigkeit, ein „umfassendes politisches Grundsatzpapier mit konkreten Forderungen und Handlungsmöglichkeiten“ zu erarbeiten.

Die Grünen hatten das Tourismus-Terrain lange links liegen lassen. Deshalb erhielt die „Gruppe Neues Reisen“ (GNR), verstärkt durch ein Mitglied des „Vereins zur Förderung der eigenständigen Regionalentwicklung in Hessen“, den Auftrag, eine Studie für die Grünen zu erstellen. Knallhartes Busineß Tourismus

Oberstes Gebot der Diskussionsvorlage ist die realitätsadäquate, fundamentalistische Einsicht: „Der Tourismus ist nicht abzuschaffen.“ Warum auch, denn: „Das Verreisen-Können ist eine gesellschaftliche Errungenschaft.“ Vor einigen Jahren noch hatten einige Puristen ernsthaft einem Reiseverzicht das Wort geredet, für den „Urlaub auf Balkonien“ geworben. „Das Reisen selbst und seine touristischen Bedingungen sind zu verändern“, lautet die Forderung der Autoren. Doch keine noch so gut getarnte modische Spielart kann den industriellen Charakter der Tourismusbranche verbergen, ihn gar überwinden. Geradezu wohltuend, daß die unscharfe Heilsbringer-Vokabel „sanfter Tourismus“ hier zurechtgerückt wird. Denn häufig glauben periphere, das heißt wirtschaftlich strukturschwache Gebiete, mit einem sanften Tourismuskonzept ihre regionale Unterentwicklung per se vermindern zu können. Doch hier offenbart sich meist „das Dilemma der Tourismusentwicklung: Ein erfolgreich gestartetes 'sanftes Konzept‘ schlägt in 'harten‘ Massentourismus um, wenn die Rahmenbedingungen der Fremdenverkehrsentwicklung nicht geändert werden.“

Auch für die Länder der Dritten Welt ist es fatal, wenn sie auf den Tourismus als „dominierende wirtschaftliche Aktivität“ schielen. Denn er „verstärkt die Abhängigkeit vom Ausland, indem er zur Unterentwicklung der übrigen Wirtschaftszweige beiträgt“. Das touristische „Sittenbild“ wirkt in seiner komprimierten Form wie ein Horrorgemälde: Der Tourismus als „weiße Industrie“, seine Angebote als „Ware“, erzeugen, so das Fazit der Verfasser, „überwiegend (aber nicht nur) negative Tendenzen: Sie reichen von Prozessen kultureller Nivellierung und Desorientierung über die Stabilisierung politischer Unterdrückungssysteme und wirtschaftlicher Ungleichheit bis hin zu gravierenden ökologischen Problemen und infrastrukturellen Folgelasten.“

Dennoch: Diese kritische Situationsanalyse des herrschenden „aggressiven Großtourismus“, der das problematische Nord-Süd -Verhältnis durch die einseitigen Reiseströme noch zementiert und die ökologischen Ressourcen weiter untergräbt, gehört heute fast schon zum Standard-Repertoire auch etablierter Kreise und geht über den erlauchten Kreis der Tourismuskritiker weit hinaus. Verzicht auf Moralinsaures

„Es gibt kein Patentrezept für einen anderen Tourismus.“ Dem ist unumwunden zuzustimmen. Doch die Vorlagen-Geber für die grüne Bundestagsfraktion bemühen sich, „Lösungsansätze“ zu formulieren. Der traditionellen Leid-Vorstellung vom „harten Massentourismus“ setzen sie als Leit-Vorstellung für einen anderen Tourismus „im umfassenden Sinn seine Umwelt- und Sozialverantwortlichkeit“ als Qualitätskriterium entgegen.

An der Massenhaftigkeit des Auszugs, der touristischen Völkerwanderung, wird sich so lange nichts ändern, so die Erkenntnis der Autoren, wie die „hiesigen Lebens-, Arbeits und Umweltbedingungen“ so sind, wie sie sind. (...dann scheint die Sonn‘ ohn‘ Unterlaß, d.S.) „Um eine Veränderung des Reiseverhaltens zu bewirken, muß sich also in den Herkunftsländern selbst vieles ändern.“ Gott sei Dank wird hier auf das sonst stets unvermeidliche moralin -triefende Brevier „Das kleine Einmaleins des guten Touristen oder Wie verhalte ich mich im Urlaub richtig“ verzichtet.

Bei der Kardinalfrage des touristischen Aus-Wegs, den anderen Formen des Tourismus, werden die Auswirkungen vor allem auf die „Bereisten“ berücksichtigt. „Schadensbegrenzung und Vermeidung weiterer Folgeschäden“ müsse das vorrangige Ziel sein. „Erschließungsstopp“ und „eine gezielte Engpaßpolitik“ sind dort notwendige Regulative, wo touristische Belastungsgrenzen auf die einheimische Bevölkerung erkannt worden sind. Ein im guten grünen Sinn verstandener angepaßter, qualitativ anderer, ökologisch orientierter Tourismus bedarf der harten Nachhilfe der eingreifenden Politik. Wo strukturelle Veränderungen vonnöten sind, sind moralische Appelle fehl am Platz. „Denn es geht nicht allein um etwas weniger schädliche, sanftere Formen, sondern um neue Prioritäten für die Betroffenen und die Umweltbedingungen.“ Vorrangige Aufgabe einer anderen Tourismuspolitik wäre es demnach, Vorsorge zu treffen, das heißt zu agieren, anstatt Schaden zu begrenzen, was heißt zu reagieren. Wo schon touristischer Flurschaden erzeugt worden ist, da soll er unerbittlich nach dem Verursacherprinzip kompensiert werden: „Verursacher ist auch der Tourist, daher Einführung eine Umweltschutzabgabe“, heißt es lapidar. Alle weiteren touristischen Planungen können nicht hinter dem Rücken der Betroffenen, sondern nur gemeinsam und in Konsens mit ihnen durchgeführt werden. Bei neuen touristischen Bauvorhaben wird für ökologisch sensible Regionen eine Umweltverträglichkeitsprüfung gefordert.

Der Tourismus ist bisher fast ausschließlich durch das Brennglas seiner Wirtschaftlichkeit betrachtet worden. Diese verzerrte Optik wollen die Vor-Schreiber für die Grünen nicht länger gelten lassen. „Tourismus kann nur integrierter Bestandteil von Wirtschaftskonzepten sein„; touristische Monokulturen werden abgelehnt. Reife wirtschaftliche Früchte trägt nur der Tourismus-Zweig, so die Conclusio, der „die Bindung des wirtschaftlichen Nutzens an die Region“ beherzigt. Von der Theorie

zum grünen Programm

„Die Nachfrage nach dem Papier war ungeheuer groß“, freut sich Halo Saibold, muß aber gleich einschränkend hinzufügen, daß „es an Rückmeldungen bisher gemangelt hat“. Trotzdem hofft sie, daß aus der Partei doch noch substanzielle Anregungen und Verbesserungsvorschläge eingehen, damit das Positionspapier auf der nächsten Bundesversammlung der Grünen im März 1990 abstimmungsreif ist und grünes tourismuspolitisches Programm werden kann. Für jede einzelne touristische Problemregion (Nordsee, Alpen) müsse, fordert Halo Saibold, jeweils ein extra Konzept entwickelt werden. So bereits geschehen in Berchtesgaden, wo die dortigen Grünen ein regionalspezifisches Papier erarbeitet haben. Die grüne Bundestagsabgeordnete, die seit 1987 für ihre Partei im damals eingerichteten Unterausschuß Fremdenverkehr sitzt („mit gutem Erfolg“), ist zuversichtlich, daß das grüne Programm in spe nicht nur graue Theorie bleiben wird. Als Vorlagebogen, aus dem dann ein genuin-grünes Programm gebastelt werden kann, eignet sich die Diskussionsvorlage ohne Zweifel. Das noch etwas sprunghafte Sammelsurium der wohl oder übel bewußt allgemein gehaltenen Thesen und Forderungen ist ein erster Schritt. Die grünen Pfadfinder bewegen sich auf dem richtigen touristischen Weg.

Was fehlt? Vielleicht ein kritischer Passus zum dienstlichen Reiseverhalten der Politiker und Abgeordneten selbst, die ihre übereifrige Reisepraxis etwas zügeln könnten. Denn auch hier gilt die Devise: Weniger (Reisen) wäre mehr (Gewinn)!

Günter Ermlich