"Wo liegt denn bloss Tarifa?"

■ Von zweien, die auszogen, "sanft" zu reisen

Günter Ermlich und Reinhard Kuntzke „WO LIEGT DENN BLOSS TARIFA?“

Von zweien,

die auszogen,

„sanft“ zu reisen

Was wird nicht alles durch das liebe kleine Wörtchen „sanft“ verbrämt! Bei der „sanften Technik“, der „sanften Geburt“ und der „sanften Chemie“ wurde es vorexerziert, der „sanfte Tourismus“ folgte auf dem Fuß. Geistiger Vater der touristischen Sanftheit war 1980 der Zukunftsforscher Robert Jungk, der dem „harten Reisen“ das windelweiche „sanfte Reisen“ gegenüberstellte. Tourismusforscher und -reformer allerorten griffen begierig das neue Schlagwort auf.

Jedem Forscher sein Pläsierchen beziehungsweise seinen eigenen Begriff. Jungk trat eine Wortlawine los, und seine Epigonen überschlugen sich im Erfinden neuer Kreationen: Umwelt- und sozialverträglicher, stiller, nicht -technisierter, naturnaher, umweltfreundlicher, schützender, angepaßter, ökologisch orientierter, einfacher, grüner Tourismus. Die Gemeinsamkeit aller dieser Worthülsen liegt in ihrer Schwammigkeit.

Als Terminus technicus hat sich der „sanfte Tourismus“ behauptet. Seine Inhalte sind allerdings nicht sonderlich neu. Es geht um Forderungen nach einer veränderten Reisepraxis und Tourismuspolitik, wie sie schon im „Alternativtourismus“ (noch so ein schillerndes Wort) proklamiert und ansatzweise realisiert worden sind. Die Erkenntnis, daß auch die touristischen Ressourcen begrenzt sind, setzt sich bei den TouristInnen, den „Bereisten“ und den TouristikerInnen allmählich durch. Der Schutz des verbleibenden Urlaubspotentials ist angesagt: kein weiterer Ausbau der touristischen Infrastruktur wie Straßen, Flugplätze, Hotelbauten; Bewahrung von Natur- und Kulturlandschaften; positive Veränderung der heimischen Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingung; Stärkung der eigenständigen regionalen Kultur und Wirtschaft; Verminderung des Individualverkehrs. Die Kette der Forderungen ist fast endlos. Wie sieht es nun real aus, will der/die stinknormale UrlauberIn „sanft“ reisen? Beispielsweise samt Freund oder Freundin samt Kind (neun Jahre) ins kanarische Ferien- und Aussteigerparadies Gomera. Beide sind LehrerInnen und unterliegen bei ihrer sommerlichen Urlaubsplanung der Westberliner Schulferienordnung (20.7. bis 2.9.). Für sanfte TouristInnen, wie sie sind, verbietet sich die Anreise mit dem Flugzeug. Hübsch langsam wollen die drei reisen, mit Zug und Schiff, da und dort mal aussteigen und übernachten, damit das Ganze nicht zu stressig wird und sie „Land und Leute“ kennenlernen können. Wir haben die Probe aufs Exempel gemacht und mit diesem Reisewunsch Westberliner Reisebüros aufgesucht, die im Ruf stehen, „alternativ“ zu sein. Hier pflegt die Szene zu buchen. Exakte Abfahrtszeiten, Umsteigeorte und Preise sollen uns die ReisebüromitarbeiterInnen nennen - so unsere Hoffnung. * * *

Zuerst fahren wir mit der Linie1 ins tiefste Kreuzberg 36. Hier, kurz vor dem antifaschistischen Schutzwall, residiert und resigniert ein kleines „Reisebürokollektiv“. Schnell sind die paar Treppenstufen erklommen, und wir stehen in einem höchst privaten Büro. Der Kunde begreift, daß er hier Gast ist, der nur die Privatsphäre stört. Verunsichert und schüchtern stammeln wir unser Begehren. Der Typ hinterm Schreibtisch ist sichtbar konsterniert ob unseres Anliegens. „Wie kommen die bloß auf diese abstruse Idee?“ mag er sich denken. Teuer, sauteuer sei diese Reise mit Bahn und Schiff. In Kreuzberg ist Sparen Trumpf. Von Cadiz geht die Fähre zu den Kanarischen Inseln, das weiß das Kollektivmitglied aus dem Effeff und zeigt uns blöden Kunden die spanische Hafenstadt auf einer riesigen Europakarte - ohne Lupe. Zielsicher kramt der alternative Reisebüroexpedient aus einem Stoß ungeordneter Zettel und Prospekte das Verzeichnis einer Fährgesellschaft: „298 Mark pro Nase in einer Vierbett -Innendeck-Kabine. One way.“ Den Bahnpreis Berlin-Cadiz (rund 600 Mark hin und zurück) peilt er über den Daumen an, denn sein Bundesbahnprospekt reicht nur bis Madrid. „Wollt ihr wirklich dahin? Ist doch im Sommer viel zu heiß!“ Wir wollen. Da hat er noch etwas für uns: „Durchschrubben“ mit dem Bus von Berlin nach Tarifa. Er eilt wieder zur Europakarte und murmelt in seinen glattrasierten Bart: „Wo liegt denn bloß Tarifa?“ Wer sucht, der findet auch diese kleine südspanische Stadt.

Frustriert ziehen wir von dannen und fahren nach Schöneberg zum Winterfeldtplatz. Dort in der Nähe gibt es ein Reisebüro, in dessen Schaufenster eine blaue Welle schwappt. Lange Counter erwarten sehnsüchtig die Klientel. Harte Barhocker stehen davor. Von der Decke baumelt eine Weltkugel, der noch nicht die Luft ausgegangen ist. In einer Ecke tummeln sich Spielsachen. Die Frau hinter dem Tresen ist nett und freundlich und kann nicht weiterhelfen. Das Reisebüro vermittelt nur Flugreisen. Sie rät uns, es bei der Konkurrenz zu versuchen. „Im DER-Reisebüro haben sie alle Unterlagen.“ Wir geben uns damit zufrieden. Lieber eine ehrliche Aussage als schwammige Tips.

Wir bleiben in Schöneberg und latschen zur Hauptstraße dieses Berliner Bezirks. Seit Jahren existiert dort ein Reiseladen, dessen Mitarbeiterteam einst einen dezidiert politischen Anspruch vertrat. Auch hier ein langer Tresen, aber keine Hocker zum Seßhaftwerden. Ob dadurch die Verweildauer kleiner und der Umsatz größer wird? Im Raum wabert durchdringender Zigarettenrauch. Telefone surren, Schreibmaschinen klappern, durch die offene Tür tost der Lärm der Durchgangsstraße. Gleich zwei Teammitglieder kümmern sich um uns. Routiniert greift der eine zum „ABC Shipping Guide“, dem weltweiten Nachschlagewerk aller Schiffsverbindungen, und nennt uns Abfahrts- und Ankunftszeiten des Schiffes von Cadiz nach Teneriffa. Der Preis ist im Guide leider nur in Peseten angegeben und klingt erschreckend hoch: 13.000 bis 34.000 Peseten einfach, je nach Kabinenklasse. Nach kurzer kontroverser Diskussion veranschlagen die beiden für die Bahnreise zweieinhalb Tage. 700 Mark für Hin- und Rückreise seien zu löhnen. Wir sagen Tschüß! und fahren in die Innenstadt. * * *

In Sichtweite zur TU-Mensa liegt das älteste Berliner Jugend - und StudentInnenreisebüro. Inzwischen hat es sich zu einer Kette mit sechs Reiseläden gemausert. Zwei pralle Weltkugeln liegen in der schmalen Fensterauslage und umrunden die Sonderangebote „Bangkok ab Schönefeld 1.460 Mark“ und „Dorfferien Rhodos ab Tegel 915 Mark, Fly&Hotel 2 Wochen“. Darüber gondelt ein Heißluftballon in den bajuwarischen Landesfarben. Beliebige Schaufensterdekoration? Oder Sinnbild für langsame Fortbewegung auf Reisen?

Hinter einem isolierten Schreibtisch im vorderen Teil des langen schlauchartigen Reiseladens sitzt eine junge Expedientin. Sie verwaltet die Bahnabteilung, ist also die richtige Adresse für uns. Als hätten wir nicht mehr alle Tassen im Schrank, begegnet sie unserer Sommerdestination Gomera, aber „bitte über Land und über Wasser“, mit ungläubigem Augenaufschlag und gequältem Lächeln. Wir sehen uns mit einem ganzen Fragenkatalog ihrerseits überhäuft: „Wart ihr schon mal im Sommer in Spanien? Habt ihr denn soooviel Zeit? Meint ihr das im Ernst?“ Sie scheint etwas aus der Fassung und Routine zu geraten, als wir auf alle drei Fragen hemmungslos nicken. Fahrpreise und -zeiten könne sie uns leider nicht geben, sagt sie bedauernd. Da müßten wir uns direkt an die Deutsche Bundesbahn wenden. Aus dem Ärmel schüttelt sie hingegen die Information, daß die Fähre Cadiz-Teneriffa dreimal täglich verkehre. Von dort aus ginge es „irgendwie“ weiter nach Gomera. „So vier bis fünf Tage dauert der Trip insgesamt. 700 bis 800 Mark, eher nach oben“ müßten wir für diese Tour de Force berappen. Uns im Nacken wartet die nächste Kundin auf Abfertigung. „Bei uns könnt ihr die Unterkunft buchen“, ruft uns die Reisebürofrau noch hinterher und zeigt auf das Infoblatt „Gomera '89“ im Ständer an der Wand. Daneben liegt ein „Globetrotter-Info“ mit dem Wahlspruch des Reiseladens: „Mehr Spaß als Geld.“ Es enthält in synoptischer Ja/Nein-Gegenüberstellung formelhaft die Urlaubsphilosophie des Ladens, zum Beispiel „Ja: essen, wo es schmeckt; Nein: charakterlose Hotelmenüs.“ Grandiose Erkenntnis! * * *

Die nächsten drei Besuche in alternativen Reisebüros erweisen sich durch die Bank als Flops. Alle haben keine Vertretung der Deutschen Bundesbahn, sind reine Ikarus -Unternehmen. Auch beim sich expressis verbis „alternativ“ nennenden Reisevermittler kann man Berlin nur auf den Luftkorridoren verlassen. Höflich, aber bestimmt weist uns die kühle Blonde hinter dem Counter in die Reiseschranken: „Nein, so was haben wir überhaupt nicht.“ Na, so was. Wieder einmal weist sie uns den Weg ins DER-Reisebüros, „das für so was“, nämlich Bahn und Schiff, da sei.

So langsam tun unsere Füße vom vielen Herumlaufen und Klinkenputzen weh. „Einfach mal anrufen!“ Gerne nehmen wir diesen Telefonwink aus einer Reisebüroanzeige auf. „Das endgültige Reisebüro“ (Eigenwerbung), das wir anwählen, liegt in Tuchfühlung zu einem Friedhof und beherbergt zusätzlich eine Mitfahrzentrale in seinen Räumen. Der alte Spontispruch „Legal - illegal - scheißegal“ stand wohl unfreiwillig Pate bei der Urlaubsmaxime dieses Reisebüros: „Pauschal - individual - ganz egal: aus 1.001 Angeboten von 111 Veranstaltern mixen wir Ihren Urlaubscocktail.“ Von „Kanuferien in Schweden“ bis zu „Töpferferien in Kappadokien“, der Cocktail der Urlaubsbegehrlichkeiten scheint hier unendlich. Die warmklingende Frauenstimme am anderen Ende der Leitung ist von Anfang an um unseren Geldbeutel arg besorgt. „Auf jeden Fall teurer als Fliegen, das kann ich Ihnen jetzt schon sagen.“ Dies beteuert sie wissend auf unser kombiniertes Bahn-Schiff -Expeditionsbegehren zum insularen Ziel. „Nach Gran Canaria fliegen, von da nach Gomera rüberschiffen“, das sei „noch erschwinglich“, meint die Telefonstimme, wieder ganz um unser pekuniäres Wohl besorgt. Offensichtlich mit hellseherischen Fähigkeiten begnadet, taxiert sie uns als „arme Bettelstudenten“. „In der Aufregung“ - ist unser Begehren so aufregend? - findet sie erst nach längerem Hin und Her Fahrplan und Preistabelle der Fähre. „Hier hab ich's ja, Melia-Reisen.“ 298 Mark pro Strecke (Cadiz-Teneriffa, Vierbett-Kabine mit Dusche und WC) würde der Spaß kosten, „mit Steuern bestimmt um die 350 Mark“. Preisfrage: Müssen wir die Fährsteuern beim Berliner oder beim kanarischen Finanzamt versteuern? Nur wenn wir die Fähre beim „endgültigen Reisebüro“ kaufen würden, könnte die Reisebüromitarbeiterin auch die Bahnverbindung für uns mitbuchen. Sonst gilt die Regel: „Bahn machen wir ungern, weil da verdienen wir ja nichts dran.“ * * *

Zu guter Letzt machen wir die Gegenprobe beim touristischen Establishment. Wir beherzigen die Empfehlung der Alternativen und betreten das DER-Reisebüro in der City. Gediegenes Interieur, übersichtlich nach Sparten getrennte Counter (Bahn-, Flug-, Seetouristik). Wir haben Glück, es herrscht Kundenflaute. Die ältere Fachfrau in der Bahnabteilung stellt im ruhigen Pingpongspiel zwischen Kursbuch und Computer zügig die notwendigen Auskünfte zusammen: „Von Berlin bis Cadiz hin und zurück über Basel und Genf 750 Mark.“ Sie hält kurz inne, erinnert sich dann an „einen noch günstigeren Weg“ über Paris: „700 Mark mit Ermäßigung in Frankreich.“ Prompt folgen die Angaben zum genauen Reiseverlauf. Kein überflüssiges Wort über brütende Hitze und die horrenden Fahrpreise.

Für die Fährverbindungen schickt uns die Fachkraft zum Kollegen der Schiffsabteilung. Der dicke Graumelierte blättert seelenruhig und sorgfältig die Prospekte der „Transmediterranea“ durch. Zum Mitschreiben teilt er uns präzise das Timetable mit: „Ab Cadis dreimal die Woche dienstags, donnerstags, sonnabends um 20 Uhr mit dem Schiffstyp Tiburon (das heißt auf gut deutsch 'Hai‘). An Teneriffa zwei Tage später um 13 Uhr. Ab Teneriffa um 23.45 Uhr, an Gomera um 8 Uhr morgens.“ Kommentarlos-korrekt folgen die Fahrpreise, Billigstpreis 298 Mark in der Vierbettkabine. * * *

Zugegeben: Unser Streifzug durch die Westberliner alternativen Reisebüros war subjektiv, zufällig, selektiv. Repräsentativität ist ausgeschlossen. Wir wollten einmal durchspielen, wie es einem ergeht, der nichtsahnend seinem sanften Reisewunsch frönen und sich dem Urlaubsdomizil auf ungewöhnlichen Wegen nähern will: Behutsam auf Schienen und dem Wasser anstatt mit Schwingen der Kerosinfresser in Windeseile. Uns schwebte keine wissenschaftliche Untersuchung im Stil der Stiftung Warentest vor, die mehrfach den Reisebüros auf den Zahn gefühlt hat. Wir werfen nur ein Schlaglicht auf die Beratungsqualität der alternativen Reisevermittlungsagenturen. Gesamtergebnis: überwiegend mangelhaft. Seriosität, Qualifikation und Detailgenauigkeit werden bei den „Alternativos“ kleingeschrieben - fast zur Unleserlichkeit.

In der Bundesrepublik gibt es für Reisebüros keine Lizenzpflicht. Ein Antrag beim Gewerbeamt genügt. Ein unabhängiges Gütesiegel, das fachliche Beratung garantiert, gibt es nicht. Wer auf alternatives Ambiente, pseudopersönliche Ansprache und über den Daumen gepeilte Angaben verzichten kann, der findet - so das Fazit unserer kleinen Testtour - im Reisebüro der klassischen Provenienz immer noch die bessere Reiseauskunft.