Streiks kommen Thatcher nicht ungelegen

Für die britische Premierministerin heißt es nach dem Europawahl-Debakel: Von wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten und unpopulären Privatisierungen ablenken  ■  Von Ralf Sotscheck

Nur zwei Monate, nachdem sie ihr zehnjähriges Thronjubliläum überschwenglich feierte, sitzt die britische Premierministerin Margaret Thatcher in der Tinte. Die Verluste bei den Europawahlen haben ihrer Konservativen Partei den niedrigsten Stimmanteil seit 1868 beschert, wie der stellvertretende Labour-Vorsitzende Roy Hattersley genüßlich errechnete. Doch es ist nicht so sehr das Wahlergebnis, das Thatcher beunruhigt, sondern die Grabenkämpfe, die es bei den Tories ausgelöst hat. Die Wahlkampagne der Konservativen hätte ungeschickter kaum sein können. Sie verursachte bei den WählerInnen Konfusion darüber, welche Einstellung die Tories nun eigentlich zu Europa haben. Einige Wahlslogans hätten auch als Aufruf zum Wahlboykott gedeutet werden können - und sind es wohl auch, wie die niedrige Wahlbeteiligung von 38 Prozent vermuten läßt.

Der ehemalige konservative Premierminister Edward Heath hatte bereits im Vorfeld der Europawahlen für Unruhe in den eigenen Reihen gesorgt, weil er Thatchers Verweigerungspolitik gegenüber Europa in der Öffentlichkeit scharf angegriffen hatte. Als das Wahlergebnis feststand, wurde er von den Labour-Abgeordneten mit stehenden Ovationen im Unterhaus empfangen. Er verzog keine Miene.

Doch nicht nur das Thema EG und der Binnenmarkt - es ist vielmehr die Ökonomie insgesamt, die der Premierministerin zunehmend Schwierigkeiten bereitet. Der Stolz, mit der sie der übrigen Welt zeigte, wie die richtige manchasterliberale - Wirtschaftspolitik zu handhaben ist, verliert sichtlich an Grundlage. Vor allem die Inflationsrate, deren Bekämpfung sich Thatcher einst zuvörderst auf die Fahnen geschrieben hatte, liegt mit 8,3 Prozent weit über dem EG-Durchschnitt. Die Zinsraten sind gestiegen, und das britische Zahlungsdefizit liegt vier Milliarden Mark höher als im letzten Jahr. Der Halbjahres -Bericht der „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ (OECD) in Paris gibt keinen Anlaß zu Optimismus. Die OECD sagt voraus, daß die Arbeitslosigkeit in Großbritannien noch vor Jahresende wieder steigen werde. Die Inflationsrate werde für die nächsten zwei Jahre „unannehmbar hoch“ bleiben, und das Zahlungsdefizit werde aufgrund des Rückgangs der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Großbritanniens sogar noch zunehmen. Das Wachstum des britischen Bruttosozialprodukts schätzt die OECD dagegen nur auf magere zwei Prozent im nächsten Jahr.

Die hohe Inflation ist Margaret Thatchers drängendstes Problem. Durch Kürzung der Staatsausgaben und Lohnerhöhungen nicht über sieben Prozent will sie versuchen, die Geldentwertung so schnell wie möglich unter Kontrolle zu bringen, damit sie rechtzeitig vor den nächsten Parlamentswahlen genügend Spielraum hat, um die strikte Kontrolle der Staatsausgaben lockern zu können. Daher wird sie versuchen, die derzeitige Streikwelle im öffenlichen Dienst auszusitzen. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Die Streiks bei der Eisenbahn, in den Rathäusern und bei der BBC haben viele Journalisten zwar dazu veranlaßt, die Situation mit dem „Winter der Unzufriedenheit“ vor zehn Jahren zu vergleichen, der die damalige Labour-Regierung zu Fall brachte. Dieser Vergleich ist jedoch übertrieben, da die Streiks im Gegensatz zu damals vereinzelt und wenig militant sind. Zwar verursacht es einige Unbequemlichkeiten, wenn die Züge, U-bahnen und Busse einmal in der Woche stillstehen, doch Grund zur Sorge besteht deshalb noch nicht. Der Verlust an Arbeitstagen durch Streiks ist so niedrig wie seit 50 Jahren nicht mehr. So sind die scharfen Angriffe Thatchers auf die Streikenden auch eher ein Versuch, das neugewonnene Ansehen der Labour Party anzukratzen, indem ihr die Kampfmaßnahmen der Gewerkschaften in die Schuhe geschoben werden. Thatcher bezeichnete die Streikenden als rücksichtslose Erpresser. „Wie abscheulich das ist eins der Probleme einer Demokratie“, erregte sie sich. Doch wird sie sich wohl kaum dazu hinreißen lassen, Streiks im öffentlichen Sektor zu verbieten, was ihr Transportminister gerne sehen würde.

Trotz der verbalen Ausfälle kommen die Streiks für Margaret Thatcher gar nicht ungelegen, da sie von den parteiinternen Streitigkeiten und den Problemen mit den Privatisierungsplänen der Regierung ablenken. Eine Umfrage in der vergangenen Woche ergab, daß 80 Prozent der Bevölkerung die Privatisierung der Strom- und Wasserindustrie ablehnen. Die Entscheidung Thatchers, die Atomindustrie gegen den Rat des Energieministers Cecil Parkinson in die Privatisierung einzubeziehen, erwies sich hierbei als Fehler. Zum ersten Mal mußte die Regierung nämlich Zahlen publizieren, die die immensen Kosten der britischen Atomreaktoren belegen. Die Veröffentlichungen senken den Verkaufswert der Stromindustrie beträchtlich zum Nachteil der Steuerzahler. Als Ausweg plant die britische Regierung, eine Steuer auf fossile Brennstoffe einzuführen. Dieser Steuerertrag soll der Atomindustrie zugute kommen, um dadurch die Kosten für beide Stromerzeugungsarten künstlich anzugleichen. Ebenso wird der Bevölkerung die Rechnung für die Privatisierung der Wasserindustrie präsentiert werden. Um diesen Industriezweig zu modernisieren, sind erhebliche Investitionen nötig, die wie soll es anders sein - durch erhöhte Preise aufgebracht werden sollen. Und vielleicht merken sich die WählerInnen ja doch, wem sie das zu verdanken haben. Spätestens seit den Europawahlen hat Margaret Thatcher ein weiteres Problem. Der Stimmanteil der Grünen von 15 Prozent zeigte, daß die WählerInnen Umweltthemen ernst nehmen. Deshalb wird Thatcher den Weltwirtschaftsgipfel in dieser Woche in Paris dazu nutzen, in der Rolle als „oberste Umweltschützerin“ mit dem selbsternannten Wächter des Tropenwaldes, Kohl, zu konkurrieren. Ein Drittel des britischen Thesenpapiers für den Gipfel beschäftigt sich mit ökologischen Themen.

Für die Opfer des Thatcherismus in Großbritannien ist das kein Trost. Steuersenkungen für Spitzenverdiener und strengere Sozialhilfebestimmungen haben im vergangenen Jahr dazu geführt, daß eine weitere Umverteilung des Einkommens zugunsten der Reichen stattgefunden hat. Den Arbeitslosen bleiben nicht viel mehr als „viktorianische Almosen“, wie es der 'Observer‘ formulierte. Für Empörung haben in letzter Zeit Berichte über Industriemanager gesorgt, die ihr eigenes Einkommen vervierfacht haben, während sich die Arbeitnehmer mit moderaten Lohnerhöhungen zufrieden geben sollen, um die Inflation nicht anzuheizen. Für die hohe Inflationsrate sucht Thatcher noch einen Sündenbock. Mit einer Kabinettsumbildung kann dann Ende des Monats gerechnet werden.