Gorbatschow unter Druck von zwei Fronten

■ Lage in Georgien außer Kontrolle / Truppen wurden verstärkt / Jetzt streiken 150.000 Kumpel in Sibirien und der Ukraine / Oberster Sowjet berät Streikrecht

Moskau (ap/dpa/wps/taz/ - Die sowjetische Reformpolitik steht möglicherweise vor ihrer schwersten Belastungsprobe. Der immer gewalttätigere Nationalitätenkonflikt zwischen Georgiern und Abchasen sowie die regionale und zahlenmäßige Ausweitung der größten Streikbewegung in der Geschichte der Sowjetunion stellen die Moskauer Reformer vor schier unlösbare Aufgaben. Während die Führung die Ausweitung der Streiks auf das ukrainische Doness-Becken am Montag mit der Beratung eines Streikgesetzes im Obersten Sowjet beantwortete, setzte sie im georgisch-abchasischen Nationalitätenkonflikt auf Härte.

Über Teile der in Georgien liegenden autonomen Republik Abchasien wurde am Dienstag der Ausnahmezustand verhängt, nachdem die blutigen Auseinandersetzungen bereits 16 Menschenleben gefordert hatten. Die Kämpfe zwischen georgischen und abchasischen Gruppen, an denen bis zu 5.000 bewaffnete Menschen beteiligt sind, dauern an. Wie ein Sprecher des sowjetischen Innenministeriums am Dienstag mitteilte, seien auf Wunsch der georgischen und abchasischen Führung 3.000 Milizionäre in die Krisenregion verlegt worden. Gleichzeitig wurden Sonderermittler eingesetzt, die nach den Anstiftern der bewaffneten Kämpfe fahnden sollen. Im Laufe der Auseinandersetzungen waren mehrere Gefängnisse und Milizstationen gestürmt worden. Einem Bericht der Tifliser Zeitung 'Sarja Wostoka‘ zufolge wurden Eisenbahnstrecken zerstört. Amtsgebäude in der abchasischen Hauptstadt seien mit Einschußlöchern übersät. Trotz des massiven Einsatzes der Sondereinheiten des Innenministeriums und der regionalen Polizei konnten die blutigen Kämpfe auch am Dienstag nicht unter Kontrolle gebracht werden. Betriebe und Läden in der Region blieben auch gestern geschlossen. Der Verkehr sei zum Stillstand gekommen, Straßen und Telefonverbindungen seien unterbrochen worden. Der Zugverkehr in der Umgebung von Suchumi sei vollständig lahmgelegt. Fortsetzung Seite 2

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Gleichzeitig mit der Verschärfung des Nationalitätenkonflikts hat sich auch die Streikwelle, die vor einer Woche im westsibirischen Kohlerevier Kusbass begann, auf das ukrainische Doness-Becken ausgedehnt. In einem 33punktekatalog fordern das Streikkomitee der Zeche von Makejewka ebenso wie die Kumpel in Westsibirien Lohnerhöhungen, Schichtzuschläge, bessere Sozialleistungen und den Abbau des Bürokratenapparats. Die Streikenden von Kusbass haben inzwischen Vertreter in andere Kohlereviere darunter auch nach Chakassia bei Krasnojarsk (Nordsibirien)

-entsandt, um die dortigen Kumpel über ihre Bewegung zu informieren.

In Moskau traf sich unterdessen der für Gesetz und Ordnung zuständige Ausschuß des Obersten Sowjets, um über ein Streikgesetz zu beraten, das die Vorgehensweise bei Arbeitskämpfen auf eine rechtliche Grundlage stellt. Nach Angaben der 'So

wjetskaja Rossija‘ sind inzwischen 150.000 Bergarbeiter im Ausstand. Nach wie vor sind sowohl die offiziellen Reaktionen als auch die Berichterstattung in den Medien äußerst wohlwollend. Den Zeitungsberichten zufolge ist es den in Streikkomitees organisierten Führern der Protestbewegung zu verdanken, daß gewalttätige Ausschreitungen bislang vermieden werden konnten. Diese wachten über einen geordneten Ablauf der Protestbewegung, gingen auf „Provokationen“ nicht ein und sorgten selbst für die Kohleverteilung an lebenswichtige Betriebe, denen ein erzwungener Stopp schweren Schaden zufügen würde. Gegenüber 'Komsomolskaja Prawda‘ unterstrich der Vertreter des Ministeriums für Kohleindustrie, daß die Forderungen der Bergarbeiter durchaus gerechtfertigt seien. Nach dem Übergreifen der Streikbewegung auf die Ukraine, wird immer zweifelhafter, ob die bisherige Verhandlungsstrategie der sowjetischen Führung zu einer Entspannung der Situation beitragen kann. Insbesondere die bisherige Weigerung Gor

batschows und Ryschkows, in direkte Verhandlungen mit den Streikenden zu treten, dürfte bei den Kumpel eher auf Unverständnis stoßen. Auch die bisherigen Versprechungen wirtschaftlicher Selbständigkeit, Lohnerhöhungen und Verbesserungen ihrer sozialen Lage, dürfte angesichts der katastrophalen Lebens- und Arbeitsbedingungen zur Befriedung nicht ausreichen. Das gilt auch für die Ergebnisse, die die ins Krisengebiet entsandte Regierungskommission mit den streikenden Bergleuten im sibirischen Kusbass-Becken ausgehandelt hat. Sie erstecken sich im wesentlichen auf zusätzliche Entlohnung für Spät- und Nachtschichten und längeren Urlaub. Die Gruben sollen außerdem in Zukunft die Kohlepreise in Zusammenarbeit selbst festlegen dürfen. Auch nach der Beendigung der ersten Verhandlungsrunde zwischen Regierungskommission und Streikkomitee konnte eine Unterbrechung des Streiks nicht erzielt werden. Kurzfristig wirksame Lösungen zur Beendigung der Streiks sind nicht in Sicht. Dies jedenfalls hat die jüngste Streikwelle mit dem

Nationalitätenkonflik in der Abchasischen Republik gemeinsam.