Gorbatschow drängt

■ Verständnis für Streiks, aber auch deutlicher Hinweis auf „ganz neue Arten von Lösungen“ / Bröckeln die Streiks ab? / Für 30 Milliarden DM Konsumgüterimporte

Berlin (dpa/ap/afp/taz) - Michail Gorbatschow versucht, die Lage in den Kohlerevieren des Landes, in denen mittlerweile 180 000 Bergarbeiter streiken, mit einer Doppelstrategie in den Griff zu bekommen. Gestern abend schien es, als habe er einen ersten Erfolg erzielt: 24 000 Kumpel im Kusbass-Gebiet kehrten laut TASS an ihre Arbeitsplätze zurück.

Einerseits sagte Gorbatschow in einer Rede vor dem ZK der KPdSU, die Streiks seien die „akuteste Form der Kritik und Unzufriedenheit“ an der Politik der KP. Er lobte die Disziplin der Streikenden.

Andererseits warnte er in einer landesweit im Fernsehen übertragenen Rede im Obersten Sowjet vor den wirtschaftlichen und politischen Folgen des Ausstands, ohne die Streikenden direkt für die desolate Lage im Lande verantwortlich zu machen. Der Führungsrolle der Partei in der Gesellschaft drohe durch die Zuspitzung wirtschaftlicher und politischer Probleme eine „echte Gefahr der Schwächung“. „Das Land könnte in eine Lage geraten, in der überlegt werden muß, was zu tun ist, damit uns die Situation nicht entgleitet“, warnte er, und fügte hinzu:„Die Regierung und der Oberste Sowjet könnten sich gezwungen sehen, für diese Probleme ganz neue Arten von Lösungen zu ergreifen“. Mit dem Hinweis, Eisenbahner hätten ab dem 1. August ebenfalls mit einem Streik gedroht, warnte er nachdrücklich vor der Ausweitung des Arbeitskampfes. Die Explosivität der Situation untermauert auch seine Ankündigung, zur Linderung der Not werde man Konsumgüter im Wert von 30 Milliarden Mark importieren. Obwohl die Forderungen der Streikenden nach wirtschaftlicher Selbständigkeit sich mit der Perestroika decken, drohen die Streiks die so Fortsetzung Seite 2

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wjetische Wirtschaft zu paralysieren und damit auch den Erfolg der Umgestaltung zu gefährden. Noch am Vortage hatte Ministerpräsident Ryschkow versichert, man wolle den Einsatz gewaltsamer Mittel zur Schlichtung des Konflikts vermeiden. Er hatte auch im im Juni strikt gegen eine Einfuhr von Mangelgütern votiert, die die einheimische Wirtschaft schwächen würde.

Erste Verhandlungsergebnise auf lokaler Ebene hatten zunächst nichts an der Entschlossenheit der Streikenden geändert. In der Gebietshauptstadt Kemerowo sollen ein

neues medizinisches Zentrum und ein Heizwerk entstehen. In den Ausbau der Infrastruktur der Region sollen ebenfalls zwei Millionen Rubel investiert werden. In Prokopjewsk einigte man sich auf die Verbesserung der Ernährungslage. Neben 10000 Tonnen Zucker, 3000 Tonnen Seife soll die Bevölkerung auch noch zusätzliche Lieferungen an Milchkonserven, Tee, Kaffee und Kakao erhalten. In einem Telegramm an die Streikenden im Donbass versicherte Gorbatschow, die Verhandlungsergebnisse mit den Streikkomitees hätten Gültigkeit für die gesamten Krisenregionen. Auf dem Hintergrund des Arbeitskampfes ist auch die Behandlung des Streikgesetzes im Obersten Sowjet

vorgezogen worden. In seiner Rede vor dem ZK schlug Gorbatschow weiter vor, den Parteikongreß der KPdSU um anderthalb Jahre auf den Herbst 1990 vorzuziehen, um eventuell eine Umstrukturierung des ZKs vorzunehmen, dem bisher einige entscheidende Befürworter des neuen Kurses nicht angehören. In Georgien haben sich die Auseinandersetzungen zwischen Abchasen und Georgiern verschärft. Am Dienstag abend wurde eine Ausgangssperre über das gesamte Gebiet verhängt. 6500 Soldaten des Innenministeriums befinden sich zur Sicherung der öffentlichen Ordnung in dem Gebiet. Mehrere tausend Soldaten sollen sich zwischen die kämpfenden Parteien gestellt. In Berich

ten ist davon die Rede, bewaffnete Banden bis zu hundert Mann seien dazu übergegangen, auch die Truppen des Innenministeriums anzugreifen. 18 Menschen sollen bisher getötet worden sein und mehrer Hundertt verletzt. Die Parteichefs beider Regionen wandten sich über das Fernsehen an die Bevölkerung, das von “ Generationen Aufgebaute nicht zu gefährden . Nach Darstellung des Innenministetiums in Moskau, reichten die nach Georgien entsandten Truppen aus, um als „letztes Mittel die drastischen Maßnahmen zur Unterbindung extremistischer Aktionen zu ergreifen“. Inzwischen hat das ZK der KPdSU die geplante Plenartagung über das Natioalitätenprogramm erneut verschoben.