Sowjetische Streiks weiten sich aus

■ Vier weitere wichtige Kohleregionen haben sich dem Ausstand angeschlossen / Verschärfung der Lage im Donez-Becken / Abbröckeln der Streikfront im Kusbass / Konservative greifen jetzt die Streikenden in der 'Prawda‘ an und fordern entschiedene Maßnahmen

Moskau (afp/dpa) - Die Streiks in der Sowjetunion weiten sich aus - dramatisch nach Einschätzung von Beobachtern. Vier weitere wichtige Kohleregionen befinden sich seit gestern im Ausstand. Lediglich im westsibirischen Kusbass, dort nahmen die Arbeitskämpfe ihren Ausgang, haben die Bergleute in neun der elf wichtigsten Förderzentren die Arbeit wiederaufgenommen. Im südukrainischen Kohlerevier Donbass hingegen griff die Streikbewegung am Mittwoch auf 70 der rund 120 Gruben über.

Wie die sowjetische Nachrichtenagentur 'Tass‘ gestern meldete, streiken jetzt auch eine noch unbekannte Zahl von Bergleuten im ukrainischen Dnjepopetrowsk, in Rostow am Don, im kasachischen Karaganda und in Workuta im Nordural. Die Forderungen der Bergleute in den seit gestern bestreikten Gebieten decken sich mit denen aus dem Kusbass- und Donez -Revier. Im Gebiet Dnjepropetrowsk ruht die Arbeit in allen elf Gruben der Stadt Pawlograd. Im Bezirk Rostow wird die größte Grube am Don bestreikt, obwohl bereits vor dem Ausstand eine Vereinbarung mit den Arbeitern erzielt worden war.

Die Kumpel in Karaganda begründen ihren Ausstand unter anderem mit der mangelnden Informationspolitik über die anderen Streiks. Die Arbeiter in Workuta haben sich in einem Brief an die Moskauer Führung gewandt, in dem sie eine rasche Lösung der sozialen und wirtschaftlichen Probleme in den Kohleregionen einfordern.

Zumindest in neun der elf wichtigsten Förderzentren im sibirischen Kusbass ist es mittlerweile gelungen, die angespannte Situation zu entschärfen. Im ukrainischen Donbass hingegen scheint die Streikbewegung an Schärfe zuzunehmen. Wie die „Komsomolskaja Prawda“, am Donnerstag berichtete, bleibt die Stadt Makejewka „das Epizentrum“ der Streikbewegung im Donez-Becken. Der Streik entwickle sich weiter und „praktisch alle Kohlezechen der Stadt“ hätten den Betrieb eingestellt, erklärte ein örtlicher Komsomol -Funktionär. Die Arbeiter fordern, daß Staublungen und Tuberkulose als Berufskrankheiten anerkannt werden. Außerdem verlangen sie eine bessere Versorgung ihrer Wohnungen mit Wasser, Gas und Elektrizität. Fortsetzung Seite 2

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Nachdem die sowjetische Presse bislang zurückhaltend, teilweise sogar mit offener Sympathie über die Forderungen der Streikenden berichtet hatten, veröffentlichte die 'Prawda‘ gestern ein angebliches Schreiben von Kolchosbauern. Darin wird vor den destabilisierenden Auswirkungen der Streiks auf die sowjetische Wirtschaft gewarnt: „Wir verurteilen die Streiks, die die bereits schwierige wirtschaftliche Situation nur weiter verschlechtern“, heißt es in dem Schreiben. „Die Verfasser, die sich als „anständige Kolchosbauern“ bezeichnen, verlangen von der Regierung „entschiedene Maßnahmen, um die Ordnung im Lande wiederherzustellen“. Während Gorbatschow auch in seiner Ansprache vor dem Obersten Sowjet vom Vortag

-trotz deutlicher Warnungen - die Forderungen der Streikenden als Ausdruck der Reformpolitik wertete, ist die jüng

ste Veröffentlichung in der 'Prawda‘ der erste Versuch konservativer Kräfte, die Streiks für ihre Interessen zu instrumentalisieren.