DREIGROSCHENSTADEL

■ Zweite Folge in der Brecht/Weill-Serie im Theater des Westens

Eine Treppe, ein Pferd und die Berliner Lippe umreißen das, was man eine Inszenierungsidee nennen kann. Auf der Treppe wird gespielt. Die erste Stufe dieser Treppe liegt irgendwo im Orchestergraben, ist nicht zu sehen, könnte direktemang in die Hölle führen; sie nimmt, aufsteigend, die ganze Breite der Bühne ein, um irgendwo, kurz unterm Schnürboden zu enden: im Himmel bzw. auf den Gipfeln des Ruhms. Aufsteigen und Absteigen, Runterfallen und Hochpurzeln auf den Stufen der gesellschaftlichen Hierarchie, klingelt es assoziativ im Kopf, der bei der ersten Szene (von unten und oben kommen Reihen von Tschakos gelaufen, um mit gezücktem Gummiknüppel sich schlagende Passanten zu vermöbeln, was alles in Zeitlupe geschieht, bis daß zum Ende der Ouvertüre Leichen die Stufen pflastern) an Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ denken muß, was kräftig vom Programmheft unterstützt wird. Man ist ja nicht ungebildet.

Während sich die Reste der Eingangsrandale nach oben verziehen, erklingt aus dem niedergeprügelten, daliegenden Haufen die Moritat von Mackie Messer, gesungen von Barbara Hill Moore, die auch die Spelunken-Jenny spielt und singt: mit einer schönen Stimme, die zwischen Arie und Gassenhauer keine Verbindung herstellt, diese Pole wechselnd kreuzt und so durch die Oktaven schlingert, unentschlossen darüber, was von beiden denn nun angebracht sei.

Überhaupt, die Huren: wie sie vom Theater des Westens auf die Bühne gebracht werden, erinnert mehr an die Vorführung von Can-Can-Girls, die zur Augenfreude die Unterwäsche vorzeigen. Warum sie Mackie Messer für Geld verraten, den Mann, mit dem sie eben noch in Eintracht die Treppen hinunterstiegen, wird nicht klar: Sie tun es halt. Das, was die Logik der „Dreigroschenoper“ ist: daß jeder Mensch Ware ist, die nur über ihren Preis bestimmt wird, und das halbe Jahr gemeinsamer Haushalt im Bordell zwar gut ist für ein gemeinsames sentimentales Lied zwischen Mackie Messer und Jenny, nicht aber in Geld gewogen werden kann - und darauf kommt es schließlich an -, daß also jeder Mensch und nicht nur Huren seinen Preis hat und käuflich werden kann, das steht zwar im Programmheft, umgesetzt in der Aufführung ist es nicht. Dort werden die, die käuflich sind, auch zu denen, die alles verkaufen. Darüber aber strahlt Mackie Messer.

Der und seine Gaunerkollegen riskieren diese berühmte, längst nicht mehr in der Realität existierende Berliner Schnauze - Mackie Messer aus Zille sein Milljöh. Mackie als ein negativer, amoralischer Held, einer, der mordet, vergewaltigt, brandschatzt und entführt, fällt im Theater des Westens vollständig unter die Treppe: Es triumphiert der Luftikus, der leichtsinnige Gentlemen-Gauner, eine Art Arsene Lupin für das Musical, der die Frauen liebt. Von seiner Amoralität bleibt nichts, wenn er im Hinterhofjargon die Ballade „Vom angenehmen Leben“ in den Selbstlauten langzieht, was schnoddrig sein soll und frech, aber nur umkippt zum Mundartgesang: ein Dreigroschenstadel, das eine vergangene Zeit zu feiern versucht.

Denn die Aufführung bleibt historisch, eine Oper aus den harten späten zwanziger Jahren, in denen noch galt: zuerst kommt das Fressen und dann die Moral. Heute, mag man beim TdW denken, gibt es ja Sozialhilfe. Auch durch die Aktualisierungen im Text wird diese Version der „Dreigroschenoper“ nicht gegenwartsbezogener - die sehen eher aus wie Notbehelfe mit der Brechstange, die das Unvermögen, eine moderne Inszenierung herzustellen, kaschieren sollen.

Aber immerhin: das Pferd war echt. Auf ihm saß der Bote der Königin, der mit einem Gnadenerlaß Mackie Messer vor dem Galgen rettete. Oben, auf dem obersten Rang, tänzelte der Schimmel unruhig - ist auch nicht schön für ein Pferd, in einer schlechten Inszenierung für Spektakularität sorgen zu müssen, wenn sonst nichts zu retten ist.

Elias Canetti schrieb zur Uraufführung der „Dreigroschenoper“ 1928, daß das wie rasend applaudierende Publikum sich mit der „Dreigroschenoper“ selbst feierte und beklatschte. Denn diese Ellenbogenwelt, in der jeder jeden verkauft, in der die Amoralität Triumphe feiert, das war ihre Welt, die Welt der Geschäftemacher, die sich verewigt sah in der Oper. Auch am Samstag abend war des Applaus‘ kein Ende: Ein mittelmäßiges Establishment feiert eine mittelmäßige Inszenierung.

höttges