Moskau verschiebt Streikgesetz

■ Oberster Sowjet vertagt Vorlage zum ersten Streikgesetz in der Geschichte der Sowjetunion auf den Herbst

Moskau (dpa) - Dem Obersten Sowjet der UdSSR ist es am Mittwoch nicht gelungen, das erste Streikgesetz in der Geschichte des Landes zu verabschieden. Nach einer zum Teil heftig geführten Debatte kam kein Beschluß zustande. Die Gesetzesvorlage soll nun im Laufe der nächsten Sitzung des sowjetischen Parlaments im Herbst neu beraten werden.

Das von Gewerkschaftschef Stepan Schalaew vorgestellte Gesetzesprojekt „über die Ordnung zur Entscheidung kollektiver Arbeitsstreitigkeiten“ rief bei den Abgeordneten zum Teil heftigen Widerspruch hervor, wie 'Tass‘ am Mittwoch meldete. Das von Schalaew präsentierte Streikgesetz läßt den Ausstand erst als letztes Mittel bei Auseinandersetzungen zwischen Betrieben und Arbeitern zu und schränkt das Recht auf Streiks von vornherein erheblich ein.

Die Gesetzesvorlage sieht im Falle von Arbeitskonflikten zunächst die Anrufung einer Schlichtungskommission und danach die Entscheidung eines Arbeitsschiedsgerichtes vor, sagte Schalaew vor den Deputierten. Das Schiedsgericht soll beim Obersten Sowjet der Unionsrepubliken, der Gebiete oder Städte angesiedelt sein. Erst wenn es beiden Instanzen nach fünf beziehungsweise zehn Tagen nicht gelingt, eine Einigung zwischen den Parteien herzustellen, sollen die Belegschaften das Recht haben, „alle durch das Gesetz vorgesehenen Mittel bis hin zum Streik auszuschöpfen“. Streiks sind nach der Gesetzesvorlage aber auch dann verboten, wenn sie eine Bedrohung für das Leben und die Gesundheit von Menschen, für die normale Versorgung der Bevölkerung oder für die Sicherheit des Landes darstellen, wie Schalaew erläuterte. Nach seinen Worten sind Streiks bereits heute in der UdSSR nicht verboten. Obwohl in einem Gesetz aus dem Jahre 1974 die Möglichkeit von Streiks erwähnt werde, gebe es bis heute kein Streikrecht.

Schalaews Ausführungen warfen bei den Abgeordneten viele Fragen auf, denen er nur schwer mit sachlichen Argumenten begegnen konnte.

Der Vorsitzende des Streikkomitees vom Kemerowo im Kusness -Kohlerevier, Teimuras Awaliani, hat in einem am Mittwoch veröffentlichten Interview mit der Wochenzeitung 'Moskowskije Nowosti‘ weitere Streiks im Land nicht ausgeschlossen. „Ich denke, wenn die Regierung nicht in nächster Zeit ihre Wirtschaftspolitik ändert, sind Streiks unumgänglich“, sagte der Volksdeputierte. Die Bergleute und ihre Streikkomitees hätten begriffen, was für eine „mächtige Waffe“ die Streiks darstellten, meinte Awaliani, „und wir geben sie nicht aus den Händen“.

Unterdessen verabschiedete der Oberste Sowjet am Mittwoch ein Gesetz über die Kooperativbetriebe im Land. Das Gesetz war noch vor zwei Tagen nach großen Unstimmigkeiten zwischen den Abgeordneten erneut zur Bearbeitung in den Gesetzesausschuß zurückverwiesen worden. Es sieht vor allem eine höhere Besteuerung der Privatgenossenschaften in der UdSSR vor.