Swinging Metropolis

■ 43. C'est Entertainment!

Eigentlich heißt er Lewysohn und soll was Anständiges lernen - wie üblich. Kaufmann soll er werden, doch da ist die Musikbesessenheit vor. Wohl oder übel muß er sich erstmal beugen, geht in die Baumwollbranche, jene mit den „rosigsten Aussichten“. Beiläufig aber pianiert er bei den Theateraufführungen (Musik muß dabeisein!) des Adalbert -Matkowsky-Clubs & des Joseph-Kainz-Vereins an der Jannowitzbrücke. „Tagsüber Koofmich und nachts Künstler“ (wenngleich noch Amateur unter Amteuren), wird er später selbst kommentieren. Nach vier Jahren endet seine Kaufmannskarriere mit dem Empfang einer Ohrfeige. Chefs waren damals so; für Klein Lewysohn willkommener Anlaß, das Weite zu suchen. Er versucht sich als Trebegänger, musiziert, wo immer sich Gelegenheit bietet und bittet schließlich einen aus der berühmten Hollaender-Familie um Hilfe. Was er selbst noch nicht weiß: ihm ist nicht zu helfen. Die staubige Paukerei am Sternschen Konservatorium, vermittelt von Professor Gustav Hollaender, ist ihm ein Graus: Nix wie raus!

Seine wahre Heimat sind die Kabaretts, die zwischen 1901 & 1905 aus dem märkischen Boden schießen, in denen das ExWunderkind mehr & mehr Fuß faßt. Seine musikalischen Fähigkeiten wendet er inzwischen auch im Privatbereich nutzbringend an. So schenkt er drei Mädels, die nichts voneinander wissen, je eine Komposition mit exklusiver Widmung: „Die Orientalin“ heißt das erste Chanson für die eine, „Rendezvous bei Kranzler“ (ein Klavierpoem) das zweite für die andere, die dritte beehrt er mit dem Notenblatt „Unterm Holunderbusch“. Es handelt sich bei allen drei Stücken um das gleiche - variierte - Thema, allerdings mit verschiedenen Texten. „Musikalisch kalauern“ nennt er das und machts auch späterhin gern - mit ohne schwarmgerichtetem Ziel. Dazu fallen ihm Texte ein wie: „Am Wandlitzsee traf ich einmal / 'ne Maid mit Sommersprossen, / die kam nicht nur zur Sommerszeit, / nein, auch im Winter, wenn es schneit. / Und wenn ich solch ein Anlitz seh, / dann denk ich an den Wandlitzsee.“ Womit dem damals beliebten Ausflugsort ein Denkmal gesetzt wäre.

Damit seine Eltern mit solch taugenichtiger Brut nicht konfrontiert werden („Hängt die Wäsche ab - die Schauspieler kommen!“ ist übliche bürgerliche Losung), wählen er & sein Bruder Hugo, der als Kapellmeister & Komponist ans Linden -Cabaret geht, ein gemeinsames verschiedenes Pseudonym. Pate steht der Göttinger Philosophieprofessor Leonard Nelson. So wird der eine als Hugo Leonard zu Ehren kommen, der vier Jahre jüngere Rudolf schnappt sich des Gelehrten Nachnamen.

Seinen ersten festen Job bekommt er im Charivari in der Alten-Jakob-Straße; Inhaber ist der gefeierte Schauspieler Albert Kühne. Hier entwickelt sich Nelsons Nase fürs Neue, das Helga Bemmann so beschreibt: „Es ist das Paradebeispiel für weltstädtische Kunstausübung, für das Moderne in der Auffassung eine neue Qualität, mit der der Komponist das unterhaltungsmusikalische Genre auf eine internationale Höhe hob, indem er den Stil der Music Hall, das pariserische Flair mit dem volkstümlichen Lied Berliner Machart zusammenführte.“ Und Nelson selbst, durch die Feder des StarReporters Egon Jameson, mit dem gemeinsam er zurückschaut: „Ich bin Feuer und Flamme. So habe ich mir mein Leben erträumt. Komponieren, begleiten und keine Sorgen mehr für morgen. Und Applaus und Lachen, und der Himmel hängt voller Geigen. Das Publikum singt unsere Refrains mit, und wenn ich in der Alten-Jakob-Straße auftauche, stoßen sich die Mädchen an und sagen: 'Das ist er!‘ Herrlich.“

Doch der Laden macht Pleite, und nach einem anti-clownesken Zwischenspiel als komischer Klimperfritze tingelt er mit einem „breitschultrigen Riesenkerl mit starkem, wohlklingendem Organ“ durch die Provinz. Das ist Danny Gürtler, „König der Boheme“, und eine wahrlich erwähnenswerte Marke. Am besten berichtet Nelson/Jameson selber: „Er ist ein vortrefflicher, mitreißender Rezitator, sieht sehr männlich aus und besitzt ein ganzes Kraftwerk von Suggestion. Zwischen seinen eigenen Vorträgen konferiert er humorvoll, aber auch hemmungslos. Er liebt es, seine Zuhörer zu beschimpfen, und anstatt beleidigt zu sein, lachen sie sich halbtot und applaudieren ihm. (In den Zwanzigern wird's ihm ein BrachialSpötter namens Elow im Kabrett der Namenlosen nachmachen - aber der geisterte bereits durch die 20ste Folge dieser Serie, N.T.) Was an seinen Abenden von den anderen Mitwirkenden noch zu Beginn und am Ende vorgetragen wird, wird nicht weiter beachtet. Das Publikum verlangt nur immer wieder Danny Gürtler. Er läßt sich nicht lange bitten. Schon steht er abermals vor der Rampe und gibt Zugaben und Zugaben. Manche Vorstellung dauert mehr als vier Stunden, aber seine Verehrer wanken und weichen nicht, und sie bleiben auch selbst nach Schluß in dem Restaurant oder der Weinstube, in der er gastiert, und warten auf ihn. Ganz durchschwitzt erscheint unser Danny und trinkt ein Glas Bier nach dem anderen, und wenn er die rechte Schwere hat, so sucht und findet er Streit mit anderen Gästen, zieht sein Jackett aus und beginnt eine mächtige Keilerei. Für ihn ist es zwar der ersehnte Höhepunkt seines Abends, aber der um Gläser und Einrichtung besorgte Wirt allerdings verzichtet auf weitere Proben Gürtelscher Schlager.“

Die Crew zieht von Nest zu Nest auf einem girlandenumrankten Bierwagen, bunt gekleidet und albern geschminkt. Noch bevor die Twenties zu roaren beginnen, als Hausherr im Metropol-Kabarett, wird sich Nelson der Vagantenzeit erinnern und Gürtler als Attraktion in die Behrenstraße holen. Und damit einen Eklat produzieren, der sich gewaschen hat:

Die noch immer nicht unbeträchtliche Anzahl seiner Verehrer empfängt den BohemeKönig mit nichtendenwollendem Applaus. Der ballt die Fäuste und brüllt, man möge ihn endlich zu Wort kommen lassen. Das heizt an zu weiteren Beifallssalven. Und in die dann doch irgendwann eintretende Ruhe brabbelt er unverständliches Zeug, beginnt, einen ebenso unverständlichen Tanz aufzuführen, der darin gipfelt, daß er in Auditorium kraxelt. Dort hebt er mächtig zu krakeelen an, stößt Tische um und prügelt auf die Gäste ein. Entsetzen! Polizei!! Die kommt, eine heitere Jagd beginnt. Danny rast aus dem Theater, fegt gröhlend durch die Straßen, die Herren mit den Tschakos auf den Fersen. Am Spittelmarkt hält er inne, zieht sich völlig aus und tanzt. Immerhin, soviel Zeit bleibt ihm, bis er endlich festgenommen wird.

Nach einem Jahr meldet die Presse: „In der städtischen Irrenanstalt Herzberge ist der frühere Rezitator und König der Boheme, Danny Gürtler, gestorben.“

Norbert Tefelski