Das magnetische Zauberbuch

 ■ V O R L A U F

Video ist der flackernde Schein des elektronischen Feuers an den gläsernen Wänden des transurbanen Tunnels, den wir in die Zeit gebaut haben. Video ist eine Form der Magie. Wunsch wird Wirklichkeit; Traum verwandelt sich in eine Prophezeiung. Jede Kultur verfügt über ihre Zauberbücher, über Orakel, die auf dem Weg über die Deutung Wissen in Macht verwandeln. Aus den Fragmenten eines Rätsels erhalten wir die Lösung: Die Welt entsteht aus einem Puzzle, dessen erste Steine unsere Ahnen, Schamanen und Zauberer legten. In der Traumzeit fügten sie die Knochen eines Lebewesens neu zusammen, in der Antike Scherben. Deren Nachkömmlinge sind die unzähligen Ja-Nein-Impulse, die durchs elektronische Delphi gejagt werden, um über Sein und Nichtsein zu entscheiden. Schalten wir den Fernseher ein, um das „magnetische Zauberbuch“ zu öffnen. Sehen und hören wir, was uns die Karten zu sagen haben. Wie die späten Römer des niedergehenden Reiches verfügen wir über eine Vielzahl von Alternativen. Sie wählten unter ihren Göttern, wir wählen einen Kanal.

Studios, Kameras, Aufnahme- unmd Abspielgeräte, Apparategebirge, Landschaften aus Schaltern und Reglern: Sollte sich dahinter der Wille zur Macht über die Bilder verbergen, der zur Macht über die Wirklichkeit führt? Oder ein zeitgemäßer Don Quijotismus? Für ersteres spricht die Macht der Industrie, die diese Bilder produziert und verbreitet, spricht die Faszination, die sich von ihnen auf die Zuschauer überträgt. Für letzteres spricht die historische Erfahrung im Umgang mit Bildern. Bilder sind wie Beschwörungen. Unsere Vorfahren stellten Kerzen vor die Ikonen ihrer Heiligen. Wir schalten den Fernseher ein. Dieser kleine Zimmertempel bietet uns die ganze Welt als Opferstätte dar. Die Menschenopfer der Mayas waren harmlos im Vergleich zu den zahllosen Opfern der Abendnachrichten. Es kostet uns nur den Schweiß unseres Zeigefingers, um uns von einer in eine andere Kongregation zu zoomen.

Das Videobild ist ein Bild aus dem materiellen Nichts, ein Archiv unsichtbarer Kräfte, gegenstandsloser Architekturen, die vielleicht mit dem letzten großen Knall verschwinden wie die Heinzelmännchen von Köln. Nichts Neues eigentlich: Video als Metapher des Unbewußten, das kennen wir schon von den Traumfabriken des Films. Das elektronische Bild ist jedoch im Gegensatz zum Film wie ein schwarzes Loch, in dem alle Bilder der Gegenwart und der Zukunft verschwinden, um in anderer, immaterieller, digitalisierter Form wieder hervorzukommen. Videoland ist Grenzland zwischen uns und dem Jenseits der Bilderwelt; und wir, die Pioniere, finden uns manchmal vor, manchmal hinter der elektronischen Matrix wieder, wenn denn „vor“ und „hinter“ noch einen Sinn haben. Jenseits ist, wo die Kameras stehen: auf dem Mond, in der Erdumlaufbahn. Aus deren Perspektive ist die Erde nicht mehr als eine Puppenstubenwelt, ein gläserner Hamsterbau, ein Labyrinth der Irrwege, eine Kristallkugel gar, in der wir die Zukunft zu lesen versuchen. Was wir in ihr sehen, sind wir, ist unsere Geschichte, unser Schicksal, ein einziges Hin und Her, für den einzelnen unüberschaubar, von Computern statistisch berechnet. Wir sitzen unten, in diesem Irrgarten, und blicken auf uns hinab, auf gespaltene Existenzen. Video heißt „ich sehe“. Vorerst keine Rede von Erkennen. Die Bilder platschen wie ein Schlammregen gegen die Frontscheibe unserer Engstirnigkeit. Das ist unser Klein -Delphi im Watchman-Format - nur, können wir etwas mit seinen Botschaften anfangen?

Wissen wir etwas über den Zusammenhang zwischen den Bildern und dem, was sie abbilden - oder abzubilden vorgeben? Können wir überprüfen, ob ein Bild etwas abbildet oder ob es uns etwas vormacht? Wenn die Elektrizität das schnellste Medium ist, dann ist es auch das wahrste Medium. Es läßt sich nicht ermessen, denn alles wird an ihm gemessen. Es schafft sich seine eigene Ethik, und wir haben das Nachsehen. Den Dingen ist, das wissen wir aus der Naturwissenschaft, ohnehin nicht mehr zu trauen. Die Materie zerfällt in Nichts. Ist das ein Grund, den Bildern mehr oder ihnen weniger zu trauen? Sind die Bilder am Ende wirklicher als die materielle Welt, die nur ein Schein der Energie ist, ein Produkt des Zufalls, eine lose Ansammlunmg von kleinen und kleinsten Elementen, die von unsichtbaren flexiblen Bändern zusammengehalten werden und das bieten, was wir körperliche Welt nennen. Man käme sich betrogen vor, gäbe es einen Betrüger. Unser Weltbild dehnt sich aus wie das Universum. Schwarze Löcher durchziehen den Kosmos wie einen Emmentaler, und auch unser Weltbild bekommt Löcher. Am Ende halten wir ein Gummibild von einem Universum als Gummimaschine in den Händen, deren Gummiräder zwar noch ineinandergreifen, aber nichts mehr fortbewegen. Das neue, das „orbitale“ Weltbild (Peter Weibel): der surrealistische Alptraum metastasierender Videobilder, Lamellenbilder, deren Zeilen sich wie eine Sonnenblende auseinanderziehen lassen. Der Blick richtet sich auf eine fiktive Außenwelt ohne objektive, ohne materielle Bezugspunkte.

Wolfgang Preikschat

Der Text wurde Wolfgang Preikschats Buch „Video - Die Poesie der neuen Medien“ entnommen, das 1987 im Belz-Verlag erschienen ist.