TUCHO SPIELT DEN LEON

■ „Bühnenluft“ in der Rost-Bühne

Wenn man nun durch den Westberliner Innenstadtbereich promeniert, liegt unter dem Pflaster immer noch der märkische Sand. Der will begossen sein, daß darauf etwas wachse. Kneipen, Cafes, Restaurants - bevölkert von Großstadtmenschen, die sich nach nie getaner Arbeit das Vergnügen distanzierter Geselligkeit spendieren.

Eine Geselligkeit, die sich kultiviert hat: vom Bier zum Roussillon, von der Pizza zur Barbarie-Ente, vom Kaffee zum Cafe. Vom lauten Plappern zum leeren Blick. Der jedoch nur eine „cool“ genannte Interims-Attitüde ist. Denn auch der leerste Blick möchte sehen, möchte sich von dem Nichts promenierender Voyeure befreien, um sich - für einen Moment nur - das Geworfensein in eine falsche Welt spiegeln zu lassen. Und da langt der Gin Fizz nicht hin.

In einem Cafe „Rost“, einem gastronomischen Betrieb der Gattung große Übersichtlichkeit, findet dieser Blick neben dem Tresen eine Tür mit der Aufschrift: „Eintritt verboten“. Doch täglich gegen 21 Uhr entsteht Bewegung um diese Tür. Geldscheine wechseln gegen kleine Billets ihren Besitzer. Ein Türsteher tritt auf und läßt nur passieren, wer sich mit diesen ausweisen kann. Vielleicht ein exklusiver Klub anonymer Trinker? Vielleicht eine tatsächliche Entre-nous -Neuauflage bekannter Glücksspiele? Doch weit gefehlt: Im Hinterzimmer haust Kultur.

Ein Schauspieler mit dem Namen Tucholsky redet dort in einer fulminanten 80-Minuten-Ein-Mann-Show über Theater und sein Publikum, über Schauspieler und ihre Eitelkeit, über die kleinen Bourgeoisen, die es zu so viel Geld gebracht haben, weil sie sich so vortrefflich mit ihren Verwaltungen organisieren, die alle von der Zentrale verwaltet werden, die sich eigentlich dezentral verwaltet, weil sie so unüberschaubar viele Filialen hat. In diesen Filialen sitzen dann die kleinen Herrscher, diese Schar der Mandarinen, diese Miniaturkaiser, und quälen den letzten noch arbeitenden Bürger so lange, bis auch dieser die Laufbahn des pedantischen Staatsdieners einschlägt. Der wird dann zum Beispiel Postbeamter in einem Postamt, das zwei Eingänge hat. Und dieser Postbeamte willkürt mit diesen Eingängen so heftig, daß es einem die Freude am Besuch des Postamtes verderben kann: Mal schließt er am Morgen nur den rechten Eingang auf, mal nur den linken. Dann wieder den rechten. Aber stets so, daß der Postkunde stets zuerst die Klinke der geschlossenen Tür niederdrückt. Denn eins ist sicher: Es stehen niemals beide Türen gleichzeitig... Na ja.

Das wissen diese Hinterzimmertheaterbesucher alle recht gut, was der Herr Tucholsky da so über die großen und die kleinen Spießer darstellt. Denn schließlich hat jeder schon einmal einen Spießer getroffen. Aber so wie der Herr Tucholsky sich als Schauspieler da auf der kleinen Bühne anstrengt, wie er schwitzt, wie er seufzt, flüstert, schreit, wie er sich seinen Text als Rapgesang in die Schreibmaschine diktiert, da kann man sich nicht zweier Erkenntnisse gleichzeitig erwehren: 1. Der Herr Tucholsky hat sich den Text nicht nur in die Maschine, sondern auf den Leib geschrieben. 2. Spießer sind gar nicht so selten, sie kommen vielmehr eigentlich ziemlich massig vor.

Und wie zum Zeichen des Einverständnisses erhebt das Publikum unisono den Arm, was Herr Tucholsky dazu benutzt, diese in Telegrafenstangen zu verwandeln: Er verbindet alle diese Telegrafenstangen mit einem langen Wollfaden und inszeniert das „Europäische-Diplomaten-telefonieren-Spiel“. Da wird jeder Arm gebraucht.

Und dann ist man froh, wie man das, inklusive eigener „Verstrickung“, erkannt hat, auch ein wenig erhitzt ist man

-vom kleinen dunklen Raum wie vom ermunternden Lachen, das man gunstvoll spendiert hat. Tucholsky in seiner Rolle als Leon Boden hat einem gut gefallen. Es ist ja auch schön, wenn man zwischendurch seinen Gin Fizz stehenlassen kann, um hinten Kultur zu trinken. Dann schmeckt er nachher um so moralischer. Tucholsky war gut. Denn immer kann man nicht selber reden. Und auch das Schweigen bedarf gelegentlich einer Inszenierung.

A.Modern

„Bühnenluft“, eine Produktion der Comedie Berlin mit Leon Boden, in der Rost-Bühne, Knesebeckstraße 29, 1-12, noch bis zum 22. Oktober, außer Di/Mi, um 21 Uhr.