Hermlin: Keine Angst vor Reformen

Der DDR-Schriftsteller sieht Notwendigkeit zu Veränderungen / Gegen Kriminalisierung der Opposition / Der Begriff „Sozialismus“ fehlt ihm beim „Neuen Forum“ / Gibt es heute Krach über den Dächern Berlins?  ■  Von Knud Rasmussen

Berlin (taz)- Der Ostberliner Schriftsteller Stefan Hermlin mag sich mit der bislang größten DDR-Oppositionsgruppe Neues Forum nicht anfreunden, ist aber gleichwohl „gegen eine Kriminalisierung von Menschen, die das nicht verdienen. Ich sehe diese Menschen als ehrliche Menschen an und nicht als Kriminelle nicht als Staatsfeinde“. Das sagte Hermlin gestern in einem Interview des Deutschlandfunks.

Hätte man ihm den Aufruf des Neuen Forums vorgelegt, fuhr Hermlin fort, „so hätte ich ihn in dieser Form nicht unterschrieben, weil in diesem Aufruf entscheidende Dinge fehlen wie z. B. allein der Begriff 'Sozialismus‘. Mir geht es wie vielen anderen Leuten in der DDR auch um Sozialismus.“ Diesen Satz dürften auch die meisten der über 5.000 UnterzeichnerInnen des „Aufbruch 89“ unterschreiben.

Entscheidender dürfte Hermlins zweiter Einwand sein: „Ich bin nicht für das Etablieren von Plattformen.“ Darin sieht das Neue Forum die einzige Möglichkeit, den gesellschaftlichen Dialog in Gang zu setzen (vgl. taz vom 26.9.).

Einen „vertrauensvollen, überlegten, vernünftigen Dialog“ zwischen Partei und Volk wünscht Hermlin. Auf die Frage, ob die Parteiführung dazu in der Lage sei, antwortete er: „Die Partei hat nicht die Angewohnheit, mir ihre Entschlüsse mitzuteilen. Aber ich kann mir einfach nicht denken, daß sie sich dem auf Dauer verschließt (...) Wir müssen Dinge verändern. Und ich habe im Gegensatz zu manchen Genossen keine Angst vor dem Wort Reform. Wenn man etwas verändert und den Sozialisten ist sozusagen das Gesetz der Veränderung eingeboren - ich weiß nicht, worin sich eine Veränderung von einer Reform unterscheidet. (...) Man muß nur unterscheiden können zwischen Reformeinsichten in notwendige Veränderungen, also Reformen, die von uns getroffen werden und sogenannten Reformen, die uns vom Westen suggeriert werden.“

Bestürzt zeigte sich der DDR-Schriftsteller über die Ausreise besonders junger Menschen. Hermlin wörtlich: „Daß sie die großen Ideale des Sozialismus nicht mitbekommen haben, hängt mit dem berühmten Prinzip der Erziehung der Erzieher zusammen, das Marx formuliert hat.“ Diese Erzieher, Eltern und Schule, hätten versagt.

Zum Thema Reformen in der DDR hatte sich kürzlich der Stellvertretende DDR-Kulturminister Klaus Höpcke geäußert. Am Montag ergänzte Höpcke in einem Leserbrief an die 'FAZ‘: „Revolution und Reformen in der DDR waren, sind und bleiben unsere Sache, nicht Ihre!“ Diese Klarstellung verband Höpcke mit dem einleuchtenden Hinweis, angesichts der halben Million Übersiedler aus Italien sei die Bundesregierung schließlich auch nicht auf den Gedanken gekommen, „Herrn Andreotti oder andere Politiker der italienischen Republik mit einem Wortschwall zu bombardieren, man solle in Italien Reformen nach Ihrem Geschmack und Ihrer Bestellung bewerkstelligen“.

Gestern warb in Ost-Berlin eine „Junge Revolutionäre Liga“

-entliehenes Signet: Hammer und Sichel - für ein „Trommelfeuer für China“. Aus Solidarität mit der chinesischen Demokratiebewegung wollen die Flugblattautoren heute nachmittag auf die Dächer Berlins steigen. Der Wunsch der Eimer- und Topfschläger: „Macht mit beim großen Krach auf den Dächern mit allem was ihr findet“. Revolutionäre Tatkraft unterstellt, dürfte der Lärm dennoch nicht bis nach Peking dringen. Dort knutschen gegenwärtig laut 'Neuem Deutschland‘ die ZK-Sekretäre der KPCh und SED „in einer Atmosphäre der Übereinstimmung in den Grundfragen des sozialistischen Aufbaues“. Prager Botschaft voll

Ein längerer Aufenthalt in den geheizten Zelten der Bonner Botschaft in Prag erscheint den über 1.300 DDR-Emigranten verlockender als das Angebot, bei Rückkehr in die DDR binnen sechs Monaten legal ausreisen zu können. „Wir haben kein Vertrauen. Wir wollen direkt in die Bundesrepublik ausreisen“, hieß es. Wenige hundert hatten bis gestern die Offerte des Honecker-Sendboten, Rechtsanwalt Vogel, akzeptiert. Ihre Plätze nahmen umgehend andere Auswanderer ein. Angesichts von Enge und Regen schwinden die Maßstäbe. So klagte ein DDR-Bürger: „Wir sind doch Menschen und keine Tiere, die man verrecken lassen kann.“ Der CSSR -Regierungssprecher erklärte nochmals: „Eine ungarische Lösung wird es nicht geben.“