Das Wort - ein Pfeil

■ Vaclav Havel durfte nicht nach Frankfurt/Main kommen, um den Friedenspreis des deutschen Buchhandels entgegenzunehmen. Maximilian Schell verlas sie. Havel erinnerte daran, wie mächtig das Wort ist. Auszüge aus der nicht gehaltenen Rede Havels.

Vaclav Havel

An die weltbewegende Macht des Wortes glauben wir seit jeher - und in gewissem Sinne mit Recht. Warum sage ich „mit Recht“? Es mag ihnen scheinen, daß ich die Bedeutung des Wortes überschätze, weil ich in einem Land lebe, wo für das Wort immer noch ins Gefängnis geworfen wird. Ich lebe wirklich in einem Land, in dem ein Schriftstellerkongreß oder eine dort gehaltene Rede das System erschüttern kann. Können Sie sich etwas Ähnliches in der Bundesrepublik Deutschland vorstellen? Ja, ich lebe in einem Land, das vor 21 Jahren erschüttert wurde von einem Text meines Freundes Ludvik Vaculik, der - als ob er meine Ausführungen über die Macht des Wortes bestätigen wollte - Zweitausend Worte hieß; dieser Text diente unter anderem als einer der Gründe für den nächtlichen Überfall unseres Landes durch fünf ausländische Armeen. Und es ist überhaupt kein Zufall, daß in dem Augenblick, in dem ich dieses hier schreibe, das hiesige Regime erschüttert wird von einer Seite Text wiederum wie eine Illustration dessen, was ich hier sage unter der Überschrift „Einige Sätze“. Ja, ich lebe wirklich in einem System, wo das Wort alle Machtapparate erschüttern kann, wo das Wort stärker sein kann als zehn Divisionen, wo das wahrhaftige Wort Solschenizyns als etwas so Gefährliches empfunden wurde, daß es notwendig war, seinen Autor mit Gewalt in ein Flugzeug zu setzen und auszufliegen. Ja, ich lebe dort, wo das Wort Solidarität imstande war, einen ganzen Machtblock zu erschüttern.

Ich will nicht nur von dem unglaublichen Gewicht sprechen, welches das freie Wort in totalitären Verhältnissen gewinnt. Es ist nicht nur die befreiende Macht des Wortes von Walesa oder die warnende Macht des Wortes von Sacharow, es ist nicht nur die Macht des - offenbar unsinnig ausgelegten Buches von Rushdie.

Neben dem Wort Rushdies gibt es hier nämlich auch die Macht des Wortes Chomeinis. Neben dem Wort, das die Gesellschaft durch seine Freiheit und Wahrhaftigkeit elektrisiert, gibt es auch das hypnotisierende, trügerische, fanatisierende, rasende, betrügende, gefährliche, todbringende Wort. Das Wort - ein Pfeil.

Das Wort ist eine geheimnisvolle, vieldeutige, ambivalente, verräterische Erscheinung. Es kann ein Lichtstrahl im Reich der Finsternis sein, wie einst Belinskij das „Gewitter“ von Ostrowskij genannt hat, doch es kann auch ein todbringender Pfeil sein. Und was das Schlimmste ist: Es kann eine Weile dies und eine Weile jenes sein, es kann sogar beides gleichzeitig sein!

Wie eigentlich war das Wort Lenins? Befreiend oder im Gegenteil trügerisch, gefährlich und schließlich versklavend?

Ich weiß nicht, wie es sich in Ihrem Land verhält, doch in meiner Heimat ist aus dem Wort Sozialismus schon längst ein gewöhnlicher Gummiknüppel geworden, mit dem irgendwelche reich gewordenen und an nichts glaubenden Bürokraten alle ihre frei denkenden Mitbürger in den Rücken schlagen, wobei sie sie „Feinde des Sozialismus“ und „antisozialistische Kräfte“ nennen.

In der ganzen Welt ertönt heute das herrlich hoffnungsvolle Wort „Perestroika“. Wir alle glauben, daß sich hinter diesem Wort eine Hoffnung für Europa und die ganze Welt verbirgt.

Und doch - ich gebe es zu - zittere ich hin und wieder vor Angst, dieses Wort könnte wieder nur eine Beschwörungsformel werden, es könnte sich schließlich wieder in den Gummiknüppel verwandeln, mit dem uns jemand schlägt.

Ihr Land hat einen großen Beitrag zur modernen europäischen Geschichte geleistet: die erste Welle der Entspannung durch seine bekannte Ostpolitik.

Doch auch dieses Wort konnte so manches Mal ganz schön doppeldeutig sein. Es bedeutete selbstverständlich den ersten Hoffnungsschimmer für ein Europa ohne kalten Krieg und Eisernen Vorhang; zugleich aber - leider - bedeutete es nicht nur einmal auch den Verzicht auf Freiheit und damit auf eine grundlegende Voraussetzung jedes wirklichen Friedens: Ich erinnere mich immer noch, wie zu Beginn der siebziger Jahre einige meiner westdeutschen Freunde und Kollegen mir auswichen aus Furcht, daß sie durch einen wie auch immer gearteten Kontakt zu mir, den die hiesige Regierung nicht gerade liebte, eben diese Regierung überflüssigerweise provozieren und damit die zerbrechlichen Fundamente der aufkeimenden Entspannung bedrohen könnten. Ich spreche darüber natürlich nicht nur wegen meiner Person als solcher und schon garnicht, weil ich mir etwa leid täte. Haben doch schon damals eher sie mir leid getan, denn nicht ich war es, sondern sie, die freiwillig auf ihre Freiheit verzichteten. Ich erwähne das, um von einer anderen Seite zu beleuchten, wie leicht eine gut gemeinte Sache sich verwandeln kann in den Verrat der eigenen guten Absicht und das wiederum nur durch das Wort, dessen Sinn offensichtlich nicht gut genug gehütet wurde. So etwas kann sehr leicht geschehen, man achtet kaum darauf, es geschieht unauffällig, leise verstohlen - und wenn man es dann schließlich feststellt, bleibt nur eines: späte Verwunderung. Übersetzung: Joachim Bruss