Hirnforschung im Dritten Reich

■ Bericht an die Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften

„Mit Betroffenheit“ will die Max-Planck-Gesellschaft am letzten Freitag bemerkt haben, daß in einigen ihrer Institute Hirnpräparate von Opfern des Nationalsozialismus aufbewahrt werden - das lasse sich, so erklärte die Gesellschaft mit gespielter Überraschtheit, „nicht gänzlich ausschließen“. Tatsächlich erhielt der frühere Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Professor Staab, bereits am 17.Oktober 1984 einen Bericht des Berliner Historikers Götz Aly über dessen damalige Recherchen im Frankfurter Hirnforschungsinstitut der Gesellschaft. Das Ergebnis war eindeutig. Die Gesellschaft versuchte es fünf Jahre lang zu ignorieren, nicht zuletzt, weil ihr früherer Präsident, der Nobelpreisträger Adolf Butenandt, noch 1974 erfolgreich per Beleidigungsklage gegen das vorgegangen war, was nun nicht mehr „gänzlich auszuschließen“ ist. Wir dokumentieren Auszüge aus Gätz Alys Bericht von 1984:

In der Zeit vom 23. bis 24.Mai 1984 habe ich die Akten der „Sammlung Hallervorden“ durchgesehen und teilweise kopiert. Die Akten sind im neurologischen Institut der Universität Frankfurt/Main (Edinger Institut) im Flur hinter einer hölzernen Wandverkleidung gelagert. Mir haben folgende Aktenstücke vorgelegen:

Sektion 1936, 1937 (1-90), 1939 (1-70 und 70-111), 1940 (1 -60, 61-110, 111-170), 1941 (1-60, 61-119, 120-185, 186 -282), 1942 (1-60, 61-102), 1943 (76-130), 1944 (1-83)

Die Berichte und der dazugehörige Schriftwechsel sind in Stehordnern abgeheftet und auch in sich gelegentlich lückenhaft. Darüber hinaus habe ich einen Leitz-Ordner ausgewertet mit der Aufschrift „Neurale Muskelatrophie, Krakau E. und Krakau W.“ und einzelne Hängeordner, die sich unter dem Rubrum „Sammlung Hallervorden“ in einem gesonderten Raum befanden und offensichtlich unter dem Gesichtspunkt ihres besonderen wissenschaftlichen Interesses aus den Stehordnern herausgenommen worden sind und teilweise auch die Zeichen aktueller Benutzung tragen. Es handelt sich dabei um die folgenden Hängeordner (sie sind nach den Namen der Menschen bezeichnet, von denen die Gehirne stammen):

Vierhub, Fischer, Horcher, Pörcher, Giesel, Woitha, A. Kutschke, G. Kutschke, H. Kutschke, Henning, Behrendt, Maue, Brauns, Fischer, Lehmann, Schulze, Kiewert, Bartel, Milbredt, Witschel, Geissler, Beyer, Seburg, Bernau, Fröde, Hiller, Gaus, Hoffmann, Schulze, Rothkegel

Die Gehirne all dieser Patienten sind ebenfalls in der Zeit zwischen 1940 und 1945 entnommen worden. Meine Arbeitshypothese, daß das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch sich wissentlich Gehirne und die dazu gehörenden klinischen Befunde im Zusammenhang mit der „Euthanasie„-Aktion des Dritten Reiches beschafft hat und diese Gehirne wissenschaftlich ausgewertet und später die Ergebnisse publiziert hat, hat sich auch durch die Auswertung der „Sammlung Hallervorden“ in Frankfurt bestätigt. Sie ist in der Vergangenheit durch die Rechtsnachfolgerin der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die Max -Planck-Gesellschaft, wiederholt - sogar juristisch bestritten worden.

In dem Stehordner Sektionen 1941, 1-60, findet sich eine größere Zahl von Epikrisen getöteter Kinder und Jugendlicher aus der Anstalt Brandenburg-Görden, die allesamt am 28.10. 1940 gestorben sind (in Klammern ist das Alter der Kinder angegeben):

Rotzell (14), Zimmermann (17), Dietrich (11), Böhm (11), Pietack (10), Piescher (8), Falkenberg (9), Dörr (16), Venz (13), Schiemann (12), Krabbe (16), Fengler (10), Zech (16), Jarosch (15), Kretschmer (?), Przadka (13), Schemel (16), Korioth (13), Herzog (17), Höhne (10), Handrich (10), Schade (18), Bading (16), Friedrich (9), Wringe (17), Lesniewski (11), Böhlke (14), Böttger (15), Nitschke (7), Gaida (9), Pfunfke (12), Eckert (17), Kunz (17)

Diese 33 Kinder und Jugendlichen waren, wie die Epikrisen ergeben, keineswegs jene „leeren Menschenhülsen“ oder „geistig Toten“ - Begriffe, auf die sich ihre Mörder später vor Gericht berufen haben -, sondern es waren Kinder, die teilweise die Hilfsschule der Anstalt Brandenburg-Görden besuchten und die häufig aus sozial schwierigen Verhältnissen stammten. Sie wurden offensichtlich von vornherein aus wissenschaftlichem Interesse getötet.

Der Tötungsarzt Heinrich Bunke, der von August 1940 an zunächst in der Tötungsanstalt Brandenburg (untergebracht im Zuchthaus, nicht zu verwechseln mit der Heil- und Pflegeanstalt Brandenburg-Görden) tätig war und dann Ende Oktober 1940 in die Nachfolgeanstalt Bernburg versetzt wurde, machte am 16.April 1962 vor dem Vernehmungsrichter in Frankfurt/Main eine Aussage, die den Hintergrund des Kindermassakers vom 28.10. 1940 erläutert:

„In Brandenburg wurden auch Kinder im Alter von etwa acht bis zwölf, es kann auch bis 14 Jahre gewesen sein, vergast. Es handelt sich um Kinder, die uns von Professor Heinze aus Görden - entweder direkt oder über eine Zwischenanstalt, genau weiß ich das nicht mehr - eigens zur Tötung überstellt wurden. Es dürfte sich in der Zeit meiner Tätigkeit in Brandenburg um etwa 100 Kinder gehandelt haben. (...) Ein Teil der Kinderleichen wurde von Professor Hallervorden aus Berlin (Histologie am Kaiser-Wilhelm-Institut) seziert und zur wissenschaftlichen Auswertung mitgenommen.“

Bunke hat bei dieser Gelegenheit, wie er aussagte, Hallervorden näher kennengelernt und war Mitte Mai 1941 für vier bis sechs Wochen zur Ausbildung in Berlin-Buch, um dann anschließend in Bernburg Gehirne vergaster Patienten zu entnehmen, von denen er annahm, „daß sie in Buch von Interesse seien“. Es unterliegt gar keinem Zweifel, daß die oben zitierten Akten der „Sammlung Hallervorden“ über die oben genannten Kinder und Jugendlichen auf der Grundlage dieser Morde entstanden sind und daß Hallervorden selbst bei der Entnahme der Gehirne dabei war. In den Stehordnern über die Sektionen in den Jahren 1940 und 1941 ebenso wie in den Gehirnbeschreibungen, die in den Hängeordnern „Sammlung Hallervorden“ abgelegt sind, finden sich typische und ganz ähnlich aufgebaute Beschreibungen von Gehirnentnahmen, die eindeutig auf die Tötungsanstalten Brandenburg und Bernburg hinweisen. Die sehr kurz gehaltenen Befundbogen sind fast alle mit der gleichen Schreibmaschine geschrieben, haben oben links eine „BeNr.“ und oben rechts eine „ZNr.“. Der Todestag ist meistens nicht angegeben. Die Sektion erfolgte sehr kurz nach dem Tod innerhalb von einer bis vier Stunden. Es ist daher anzunehmen, daß diese kurzen Schilderungen in der Tötungsanstalt von Bunke diktiert sind und zusammen mit den dazugehörigen Krankenakten und den entnommenen Gehirnen nach Berlin-Buch transportiert worden sind. Die „BeNr.“ und die „ZNr.“ sind ein eindeutiges Indiz für die Tötungen im Rahmen der „Euthanasie„-Aktion. Die „ZNr.“ war die zentrale Nummer in der Berliner Kartei und bezeichnete den Fragebogen, den die Anstalten über ihre Patienten an die mit den Tötungen federführend beauftragte „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ eingesandt hatten; die „BeNr.“ bezeichnet die laufende Tötungsnummer.

Im folgenden führe ich die Patienten auf, die offensichtlich in diesem Zusammenhang getötet worden sind und deren Gehirn der wissenschaftlichen Verwertung Hallervordens anheim fielen. Dabei fanden offensichtlich zwei Sammelgebiete des Kaiser-Wilhelm-Instituts besondere Berücksichtigung: „angeborener Schwachsinn“ und Epilepsie. Ich werde nach den Namen in Klammern jeweils das Geburtsjahr und die Diagnose angeben: „S“ Schwachsinn, „E“ Epilepsie.

Sektionen 1940, 1-60

Kothe (1912/S), Twisselmann (1894/S), Dammel (1936/S), Jessen (1913/E), Ewald (1887/Parkinsonismus), Höna (1917/E), Günther (1913/S + Kinderlähmung), Kühnecke (1920/E), Stühmer (1908/E), Pirchalik (1905/E), Fischer (1888/Tumor), Kowalewski (1889/S), Albrecht (1897/S), Neumann (1889/Psychose), Kürger (1890/S), Helding (1909/E), Kramp (1891/E), Böttcher (1887/S), Krammbeck (1898/S), Radol (1876/S), Keschnat (1908/S), Werner (1888/E)

Sektionen 1941, 61-112

Wolter (1886/„psychische Störungen auf endokriner Grundlage“)

Sektionen 1941, 186-282

Schedat (1908/E + S), Elsner (1898/E), Stoppert (1911/S), Reinus (1911/E), Köppen (1903/E), Walter (1902/E), Stälike (1906/E), Hartung (1892/S), Ott (1908/E), Hahn (1904/E), Frobarth (1910/S), Selcke (1912/S), Liesenberg (1896/S), Schulze (1908/S), Dingen (1920/S), Schwäger (1903/E), Gass (1898/E), Böttcher (1885/S), Wiemann (1917/S), Kritschgau (1919/E), Schlauss (1887/S), Knappe (1916/S), Werner (1887/S), Binek (1907/E), Kalies (1906/E), Thäle (1891/E), Muder (1906/E), Schulz (1909/S), Kloppmann (1902/E), Hausschildt (1916/E), Hause (1901/E), Jablonski (1911/organisches Nervenleiden unklarer Natur, S), Lübnitz (1887/E), Grimm (1879/E), Glienicke (1896/S), Pust (1908/S), Schmidt (1914/E), Lindemann (1913/S), Allen (1898/E), Springwald (1884/S), Kussat (1912/E), Jacob (1894/E), Höppner (1911/S), Czarnowski (1875/E), Nimz (1914/E), Bergel (1922/E), Zimmermann (1872/E), Schulze (1906/S), Iden (1891/S), Mehls (1901/E), Pries (1896/S), Körner (1899/E), Hubert (1885/S), Schäfer (1894/S), Leonhardt (1909/S), Albertsen (1901/?), Witt (1897/E), Jordan (1897/E), Heikrik (1921/S), Lüth (1917/S), Lakomek (1894/S), Biebrich (1906/E), Hewicker (1902/E), Kloss (1905/E), Wiemert (1894/S), Sommer (1905/S), Bussert (1906/E), Richter (1899/S), Bartuscha (1881/E), Erdmenger (1873/E), Gramolla (1884/S), Schwarz (1895/S), Niesel (1908/S), Halwas (1876/E), Bahrenmüller (1883/E), Schäpe (1900/S), Roll (1905/E), Schuckardt (1907/E), Feilner (1886/S), Wartenberg (1903/Psychopathie), Rollke (1921/S)

Sektionen 1941, 120-185

Ernst (1907/E), Krüger (1909/Parkinsonismus), Schmidt (1897/S), Giersdorf (1905/S), Siggelkow (1891/E), Behrendt (1924/S), Both (1893/E), Grau (1881/Schizophrenie), Müller (1901/S), Wenzel (1918/Geistesschwäche), Ehrensack (1915/S), Wiesnewski (1891/S), Heyer (1926/S), Harder (1915/S), Ernst (1901/S), Mundt (1909/symptomatische Psychosen), Grasnickel (1901/S), König (1913/S), Neumann (1880/Schizophrenie), Jänisch (1907/E), Weyer (1900/?), Gerhardy (1882/Psychose), Riemer (1897/S), Hirschmann (1910/E), Kunde (1902/E), Woitke (1922/E), Kreßler (1916/S), Brandt (1895/S), Luchterhand (1867/S), Krause (1905/S), Stammer (1925/S), Madel (1882/E), Jahnke (1898/S), Grohl (1914/S), Henning (1903/S), Heyne (1908/E), Söhnel (1892/S), Glenz (1925/S), Dohrmann (1923/S), Jakschies (1922/S)

Die Ablage der Sektionsprotokolle in den Akten der Sammlung orientiert sich offensichtlich nicht am Todestag der Opfer, sondern am Bearbeitungszeitpunkt der Gehirne im Institut. Über diese Sektionsprotokolle hinaus konnte ich Lieferungen von Gehirnen feststellen, die aus Anstalten stammen, die in die „Euthanasie“ verwickelt waren. Das ist einmal die Anstalt Brandenburg-Görden, die von dem Gutachter des „Reichsausschusses“ („Kindereuthanasie“) Hans Heinze geleitet wurde, von der bis ins Jahr 1944 hinein sehr kontinuierlich Gehirne von Kindern und Jugendlichen an das Kaiser-Wilhelm-Institut abgegeben worden sind. In dieser Anstalt unterhielt das Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin -Buch ja sogar eine Außenstelle.

Aus dem Beitrag von Professor Benno Müller-Hill ergibt sich, daß die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie (Kaiser-Wilhelm-Institut), die seinerzeit unter der Leitung von Ernst Rüdin gestanden hat, auf eben die gleiche Weise wie das Berliner Institut zwischen 1939 und 1945 Gehirne gesammelt hat. Die Angaben von Müller-Hill werden durch meine Recherchen nachhaltig gestützt. Unter Leitung von Professor Dr.Johannes Schleußing und unter Assistenz von Dr.Barbara Schmidt bestand in der fraglichen Zeit eine „Prosektur der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie“ in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar. Diese Anstalt ist durch die spätere Verurteilung ihres Direktors Pfannmüller und durch die verdienstvolle Untersuchung des Psychiaters Gerhard Schmidt (Selektion in der Heilanstalt 1939-1945, Stuttgart 1965) eindeutig als „Euthanasie„ -Anstalt ausgewiesen. Das umfassende Ermittlungsverfahren gegen die Heil- und Pflegeanstalt Ansbach in den sechziger Jahren ergibt, daß auch von dort mehr als hundert Gehirne von Kindern an die genannte Prosektur geliefert worden sind. Die von der Staatsanwaltschaft Ansbach beschlagnahmten Akten der Heil- und Pflegeanstalt ergeben darüber hinaus, daß diese Sammlung den Krieg überdauert hat, und nach dem Krieg, zu Beginn der fünfziger Jahre, als in München die großen Handbuchartikel für das Handbuch von Henke und Lubarsch geschrieben wurden, mehrfach angefragt wurde, bestimmte Krankengeschichten der Heil- und Pflegeanstalt Ansbach wegen besonderen wissenschaftlichen Interesses und weil sie unter den Kriegsbedingungen nicht genügend ausgewertet seien, dem Max-Planck-Institut für Psychiatrie (Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie) kurzfristig zur Auswertung überlassen wurden.

Berlin, 16. September 1984Götz Aly