Das zukünftige Lettland - ein multikultureller Staat

Zur aktuellen Situation in Lettland ein Gespräch mit Andrejs Pantelejevs (28), Physiker und Abgeordneter in der Duma, dem obersten Gremium der Volksfront  ■ I N T E R V I E W

Die lettische Volksfront hat auf ihrem 2. Kongreß vom 7. bis 8.10.89 in Riga ein neues Programm verabschiedet. Erstmalig wird darin die staatliche Souveränität Lettlands und damit die Loslösung von der Sowjetunion als Ziel propagiert.

taz: Wie stellt sich die Volksfront die politische Zukunft Lettlands vor?

Andrejs Pantelejevs: Lettland soll als selbständiger Staat wiederbegründet werden. Dieses zukünftige Lettland wird eine parlamentarische Demokratie auf der Basis der allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte sein. Die Wirtschaft soll pluralistisch strukturiert werden, das heißt, daß es neben dem staatlichen und genossenschaftlichen Eigentum auch Privatbesitz geben soll. Ferner streben wir die Neutralität und die völlige Entmilitarisierung des Landes an.

Bei allem Verständnis für die Unabhängigkeitsbestrebungen der baltischen Völker wirkt ein Programm, in dem die nationale Frage dermaßen im Vordergrund steht, in Westeuropa befremdlich, so als ob das 19. Jahrhundert der Nationalstaaten Wiedergeburt feiert. Besteht nicht die Gefahr eines lettischen Nationalismus, der die anderen ethnischen Gruppen zu Bürgern zweiter Klasse machen will?

Die Entwicklung ist gerade entgegengesetzt: Während die Volksfront noch vor einem Jahr den Fehler gemacht hat, die Parole „Lettland den Letten“ auszugeben, haben wir inzwischen erkannt, daß wir nur zusammen mit den anderen ethnischen Gruppen Erfolg haben können. Wir haben daher im Programm Garantien für die nicht-lettische Bevölkerung festgelegt. Nach anfänglichem Mißtrauen beteiligen sich nun auch zunehmend mehr Russen an der Volksfront. Die zukünftige Republik Lettland wird ein multikultureller Staat sein, anknüpfend an die liberale Tradition Lettlands vor dem Kriege. Schon jetzt wird alles bunter, ethnisch gesehen: 17 verschiedene nationale kulturelle Gesellschaften haben sich zu einem Verband zusammengeschlossen. Die erste höhere Schule für Juden in der Sowjetunion wurde am 1. September in Riga eröffnet, ebenso gibt es erstmals seit 40 Jahren eine Schule mit polnischsprachigem Unterricht. Ohnehin sind die ethnischen Grenzen nicht sehr scharf, mein Vater ist z.B. russischer Herkunft, aber entscheidend ist die Sprache und das Zugehörigkeitsgefühl.

Ist nicht aber die Forderung nach einem unabhängigen Lettland zum jetzigen Zeitpunkt zu früh?

Zunächst: Wir wollten nicht länger unsere wirkliche Zielsetzung verheimlichen. Aber wir sind Realisten, wir wissen, daß dieses Ziel nur langfristig erreichbar ist. Voraussetzung ist, daß sich die gesamte Sowjetunion verändert - auch in anderen Republiken haben sich Volksfronten gebildet, die die Unabhängigkeit anstreben. Nur wenn alle Teilrepubliken ein echtes Selbstbestimmungsrecht bekommen und eine Föderation ihrer Wahl bilden können, wird es auch für Lettland ein Lösung geben. Ein baltischer Sonderweg ist völlig unwahrscheinlich. Ich möchte aber betonen, daß wir kein Interesse daran haben, die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zur übrigen Sowjetunion, zu Rußland zu kappen. Wir waren immer und werden weiterhin Nachbarn sein. Wir sehen die Zukunft unseres Landes vielmehr darin, eine Brücke zwischen Ost und West zu sein, in jeder Hinscht.

Eine Position ähnlich der Finnlands?

Ja.

Die Voksfront erwartet also auf längere Sicht eine Auflösung der Sowjetunion?

Die Krise im Sowjetsystem ist weitaus größer, als sie im Westen gesehen wird. Vor allem wird die Macht Gorbatschows und der Moskauer Zentrale überschätzt. Die Zustände im Süden sind chaotisch. Die Sowjetunion insgesamt ist ein völlig unnatürliches Gebilde: Es ist uneinsehbar, daß wir über die Probleme der Ukraine mitentscheiden oder umgekehrt die Vertreter Mittelasiens über unsere Zukunft.

Haben sich inzwischen innerhalb der Volksfront verschiedene Flügel gebildet?

Ja, wenn auch unterschiedlich organisiert. Es gibt einen sozialistischen Flügel von liberalen KP-Mitgliedern, eine sozialdemokratische Fraktion sowie die „Bewegung für nationale Unabhängigkeit“ und das „Zentrum“, das die Mehrheit vertritt und dem auch ich angehöre. Ferner gibt es Vertreter der Grünen und auch der Kirchen.

Worunter unterscheiden sich z.B. die „Bewegung für nationale Unabhängigkeit“ und das „Zentrum“?

Die „Bewegung für nationale Unabhängigkeit“ will die alte lettische Republik restaurieren. Ihre Anhänger sind der Ansicht, daß die Vorkriegsrepublik juristisch noch existiert. Folglich soll es zunächst nur eine Staatsangehörigkeit für die ehemaligen lettischen Staatsbürger und deren Nachkommen geben, bis über eine Verfassung entschieden ist. Das wären etwa 50 Prozent der Bevölkerung. Wir vom „Zentrum“ wollen dagegen einen neuen lettischen Staat unter Einbeziehung aller jetzt hier lebenden Bürger von Anfang an, auch wenn die zukünftige Verassung in vielem der früheren ähnlich sein kann.

Gibt es nationalistische oder neofaschistische Gruppierungen?

Nein. Es gibt sicher einzelne Rechtsextremisten, aber keine solche Organisation.

Wie ist die derzeitige Position der „Interfront“ einzuschätzen?

Die „Interfront“ in Lettland ist schwächer als im übrigen Baltikum. Da sich jetzt eine unabhängige „Arbeiter-Union“ gegründet hat, ist ihr die Legitimation genommen worden, allein für „die Arbeiterklasse“ zu sprechen. Inhaltlich hat sie nach wie vor Schwarz-Weiß-Positionen: z.B. wird behauptet, daß nationale Unabhängigkeit die Wiedereinführung des Kapitalismus bedeute.

Genau das erhoffen oder befürchten - je nach Standpunkt viele im Westen. Wie sieht das Wirtschaftsprogramm der Volksfront aus?

Viele Westler meinen, daß wir kapitalismusgläubig sind und uns Illusionen über den Westen machen. Das ist falsch. Viele von uns sind Anhänger eines „Dritten Weges“. Aber noch hat uns keiner sagen können, wie eine Wirtschaft jenseits von Kapitalismus und Staatssozialismus funktionieren kann. Deshalb ist unser Programm in dieser Hinsicht weniger ausgearbeitet. Zu vielen Problemen gibt es noch keine Antwort. Fest steht aber, daß es so wie bisher nicht weitergeht, und daß wir als erstes die nationale Selbstbestimmung über die Wirtschaft erlangen müssen.

Interview: Per Ketman