HARUN FAROCKI

 ■  Eine Ansicht verschieben

Weihnachten 1967, auf einem Filmfestival im belgischen Seebad Knokke, erzählte uns ein Amerikaner, die Industrie wolle demnächst elektronische Bildaufzeichnungsgeräte auf den Konsumgütermarkt werfen. Hätte einmal jeder ein solches Gerät, so werde sich auch das Verlangen nach Filmen einstellen, die man nicht bestenfalls ein zweites Mal erträgt, sondern die sich erst erschließen, wenn man sie hundert Mal ansieht. So sprachen wir, um das Unvorstellbare zu bewältigen und weil in Knokke Filme des New American Cinema gezeigt wurden und Filme in dessen Folge. Filme, die man „experimentell“ oder „underground“ nannte, für die es in Frankreich das Wort „Paralleles Kino“ gab und an den Universitäten der USA „nicht-narrativ“.

Heute kosten die Videorecorder weniger als Fahrräder und haben nicht einmal zur Folge, daß die Fernsehkritiker eine Sendung, über die sie schreiben, so oft anschauen, daß wenigstens die Tatsachenbehauptungen haltbar sind. Der Recorder dient eher dazu, die Ansicht eines Films zu verschieben denn zu vertiefen.

In den Videotheken kann man Filme ausleihen für den Preis von einem oder zwei Bieren. Die Kassettenverleiher richten sich in Geschäften ein, in die alle paar Jahre ein neuer Mieter einzieht. Wenn es nächstens Sendekanäle für Sex und Gewalt gibt und wenn man sich über Kabel Videos von Verleihzentralen wird überspielen lassen können, werden nur wenige Videotheken für Spezialbedürfnisse übrigbleiben, so wie, würden keine Kartoffeln mehr gegessen, doch ein paar Kartoffelläden übrigblieben für die Hersteller von Kartoffeldrucken.

Eine Videothek um die Ecke bei mir - früher war da ein Nagelstudio (wo Nägel mit Köpfen gemacht wurden? d.L.) und dann wurden da Bausätze für ferngesteuerte Autos verkauft bieten gegenwärtig einen Otto-Film für 64 Mark zum Kauf an. Dieses Angebot muß an eine zahlenstarke Minderheit gerichtet sein, die noch nicht bemerkt hat, daß jeder in der BRD produzierte Normalfilm eine Fernsehbeteiligung hat und also im Programm erscheint. Wenn einer für 64 Mark einen solchen Film kauft und auf die Ausleihe von 20 anderen Filmen dafür verzichtet, damit er ihn zwanzig Mal anschauen kann, dann muß ihn ein Sonderbedürfnis treiben wie den Kartoffeldrucker beim Kartoffelkauf.

Die Fernsehsender tun das, was wir vom Recorder erwarteten: sie kritisieren den Spielfilm, indem sie ihn wiederholter Anschauung aussetzen. Paul Schrader nennt sieben Filme, die er mindestens einmal im Jahr ansieht, darunter Titel von Bresson und Ozu. Man kann einen Film von Bresson über zehn Tage täglich anschauen, weil Bressons Bilder den Blick mit zehnfacher Stärke anziehen - es gibt Planeten, auf denen die Anziehungskraft zehnmal stärker wirkt als auf der Erde. Man kann einen Film Murder by Contract von Lerner hundert Mal ansehen, weil 100 Filme scheitern mußten, um diesen Film möglich zu machen. Kinospielfilme bleiben dafür gemacht, daß man sie beim ersten Mal erfassen kann, und auch deshalb kann man sie leicht vergessen, so daß man sie nach einer Weile wiedersehen kann, so wie man ein Buch nach einer Weile wieder liest. Das aber drängt den Film zu einer Ähnlichkeit zum Roman. Gäbe es Filme, die man an einem Tag mehrere Male abspielen wollte oder müßte, könnte der Film der Musik näher werden. Kaum etwas ist davon weiter entfernt als der Video -Clip, der erfunden wurde, damit die Sender ein am gleichen Tag wiederholbares Programm zeigen können. In den Clips sind die Bilder nichts ohne Musik, so wie sie im übrigen Programm nichts sind ohne die Wörter.

Das Festival von Knokke fand im Spielcasino statt, der Besitzer ließ nichts auf die Amerikaner kommen, und man mußte nur ein Schild mit dem Wort Vietnam hochhalten, daß er seine Rausschmeißer schickte. Wir hielten Schilder hoch und waren damit einmal Godard voraus, der erst fünf Monate später das Festival in Cannes störte. Da hielt der den Vorhang zu und verhinderte, daß seine eigene Arbeit zu sehen war.