„Geht doch rüber!“

■ Skurrile Begegnung zwischen DDRlern und Autonomen

Das Kranzler-Eck, gestern nachmittag: Einigen „Dedes“ stockte beim Flanieren bestimmt der Fuß, als sie mitten auf dem Kudamm die Internationale hörten und eine Ansammlung von Leuten ein paar rote Fahnen schwenken sahen. Die autonome Szene aus Kreuzberg wagte sich gestern mit antikapitalistischen Transparenten auf den Kudamm. „Die Freiheit, die Sie meinen - ist die Freiheit der Deutschen Bank(en)“ stand in großen Buchstaben auf einem Transparent. „Freies Fluten: Ja - Kapitalismus: Nein“, war auf dem nächsten zu lesen - wobei einer dann -zigmal erklären mußte, daß mit dem „freien Fluten“ die „offenen Grenzen“ gemeint seien.

Den meisten umstehenden DDRlern blieb offenkundig die Spucke weg. Sie schauten zu, verblüfft, neugierig - aber auch geschockt, wie man an den Sprüchen leicht erkennen konnte. Einige quittierten die kleine Demo mit Pfui-Rufen und Pfiffen. „Geht doch rüber!“ wurde den Demonstranten zugerufen - diesmal allerdings von Ostlern. „Die spinnen ja“, gehörte noch zum netten Teil der Äußerungen, andere stießen sich an der Kleidung („Guckt doch mal, wie ihr ausseht“) oder forderten gleich den Arbeitsdienst herbei. („Arbeiten müßte man euch mal schicken!“) Im Vorbeigehen sagte eine junge DDR-Bürgerin fast mitleidig: „Ihr wißt gar nicht, wie schön der Kapitalismus ist.“

Dagegen konterten die Autonomen: „Werft eure sozialen Errungenschaften nicht weg.“. Und: „Wehren wir uns gemeinsam gegen eine schamlose kapitalistische Wiedervereinigung.“ „Die wollen auch die Abschaffung des Eigentums“, sagte ein Polizist und fügte stotternd hinzu: „Na ja, eben auch eine Art Sozialismus.“

Die konservative Volksseele der Berliner kochte ebenfalls hoch. „Also, zwei Tage, nachdem die Mauer offen ist, sich hier mit der roten Fahne hinzustellen, das ist schon eine unglaubliche politische Instinktlosigkeit.“ Ein Herr regte sich darüber auf, daß die Autonomen meinten, den DDR-Leuten politischen Nachhilfeunterricht erteilen zu müssen: „Die haben mehr politisches Bewußtsein als die Leute im Westen.“

„Kein Kohl, kein Krenz, kein Vaterland“, skandierten die Demonstranten und zogen in einem Zug von rund 1.000 Leuten den Kudamm ein Stück runter und wieder zurück. Aus der Menge kam ein Sprechchor zurück: „Ihr habt ein Rad ab.“

urs