Böhlen abgesagt

■ „Böhlen sei anscheinend von Gott und der Welt abgeschnitten die letzten Tage, und ihre Schwester sorge sich darum“ Georg Wagner schrieb diese Erzählung am 10. 9. 89 - eine Erzählung aus der alten Zeit

Georg Wagner

Es könnte so beginnen, daß meine Tante auf dem Hauptbahnhof zum Telephonhörer greift und ihre ältere Schwester, meine Mutter, anruft in einer anderen Stadt. Mit diesem Telephonanruf könnte sich die Situation verschärfen. Ich will nichts herbeireden, aber es könnte so sein. Meine Tante ist am Mittag mit der Straßenbahn zum Hauptbahnhof gefahren und hat unauffällig die Gleisanlagen kontrolliert. Sie ist eine Haltestelle zuvor ausgestiegen, um in der Osthalle den Hauptbahnhof betreten zu können. Nein, nicht in der Osthalle, sondern im östlichen Seiteneingang. Dieser ist allerdings schon so groß, daß er mühelos als Haupteingang eines Großstadtbahnhofes durchginge. Sie hat ihn nach reiflichem Überlegen gewählt, weil eins klar ist. Sie kann von hier aus, die Treppen führen sie kurzatmig auf das Hallenniveau, sie kann, aus dem Seiteneingang eilends tretend, die Reihe der Gleise eins nach dem anderen überblicken und kontrollieren, ob der Zug fährt. Vom angegebenen Gleis oder einem Ausweichgleis. Die Situation hat sich bedrohlich verschärft, sie hat es seit heute morgen gewußt, ihre Entscheidung ist der Zug. Wenn er nicht abfährt, passiert es. Sie geht auf dem Hallenfußboden, eine kleine Frau, erdrückt von der Masse Raum, die auf ihr lastet. Sie zieht die Pyramide hinter sich her, die festgefügte Pyramide ihres Lebens hier, ihre ganze Kraft, die noch andauern muß, bis sie fast die Westhalle erreicht hat. Sie übersieht die ganzen Uniformen, viel mehr sind es geworden als sonst. Sie sieht an Nummer 14 empor. Kurz hat sie erfaßt, daß es auf Nummer 14 keinen Zug nach Böhlen gibt. Die Fahrpläne sind nicht ausgewechselt und nicht verhangen, gleich, gleich wird es losgehen. Sie hat eine Angst vor Bombenlärm, der ihr Feuer unter dem Rock macht, vor dem Anblick von Gewehren, der das Trippeln ihrer hohen Sohlen verunsichert. Sie sieht das kommen. Bis zur Westhalle, jetzt, das Gemurmel verzieht wie Rauchlärm ihren Kopf, jetzt die Tür daneben, sie tritt ein. Mit einem unfähig genuschelten Schönen-guten-Tag drängt sie sich hinter einen dicken Polen, der sich über die Leitung und das Fräulein darin beschwert. Sie kann jetzt nicht mit Blicken flehen, aber das Fräulein merkt etwas, es scheint jetzt in der Gurgel meiner Tante das Chaos auszubrechen. Der Pole wälzt sich zur Seite. Sie drückt fest an die Scheibe. Meine Tante sagt, sie brauche ein Gespräch in die BRD, es sei dringend, es gehe um eine Zugverbindung, die müsse abgesagt werden, sonst gäbe es Malheur. Das Fräulein erwartet anscheinend etwas, aber dann wählt es richtig den Vermittlungsdienst und meldet das R-Gespräch an. Es wird vielleicht dauern. Sie soll sich setzen. Meine Tante hockt sich beinahe neben die grünen Plastiksessel, es könnte sein, sie schwitzt aus ihrer gedrungen wirkenden Bluse die Angst aus, die Verbrecher zu Verbrechern macht. Plötzlich, es wird doch nicht so lange gedauert haben, darf sie in Kabine drei. Sie würfelt die Handtasche von der Ablage in der Aufregung, als es leise schellt, dort wird sie liegenbleiben. Sie hebt ab. Graw, am anderen Apparat, ihre Schwester, meine Mutter. Josefa beißt die Zähne aufeinander und sagt beiläufig, hier wäre ihr Schwesterchen und Marie sollte jetzt genau aufpassen, wegen der Zugverbindung habe etwas nicht geklappt. Nein, Marie, wegen der Zugverbindung, hörst du, bitte, ich habe nicht soviel Geld, höre, die Zugverbindung klappt nicht, also ihre, nach Böhlen sind heute die Züge abgesagt, und sie habe seit zwei Tagen keine Verbindung mehr dorthin. Was war das letzte Wort in diesem Gespräch, ausgerufen von meiner Mutter, die fragend den Telephonhörer anguckt, weil Seffchen weg ist, es war ganz unzweifelhaft Seffchen, aber was sollte das? Sie läßt den Hörer auf die Gabel, dreht sich in Richtung Küche, und zwischen Leipzig und Oldenburg findet in den jetzt anstehenden zwei Minuten eine persönliche Recherche dieser beiden Schwestern über das Vorgehen der anderen statt. Vor Kabine drei wird gerade Josefa Pohl, das ist meine Tante, an den Ellenbogen gepackt und in Richtung Nebenausgang gezerrt. Aber mit der ihr eigenen Gewandtheit der Kleinen, begleitet von einem kanonendonnernden Geschimpfe, schlägt sie nach beiden Seiten aus, und weil sie den rechtsstehenden Herrn, der unglücklich auf seinem linken Bein steht, mit dem kräftigen Ellenbogen in den Unterleib traf, läßt er los, der andere ist für einen Moment verschreckt, sie windet mit einer Rechtsdrehung den Arm da weg, und schwups ist Josefa, immerhin eine Person über die Fünfzig, in der Glastür, an der sie beinahe gescheitert wäre, jedoch rechtzeitig noch blickt sie den Mechanismus, sie schlägt die ganze Fläche ihrem Verfolger ins Gesicht, was blutet. Sie hat nur kleine Beine, meine Tante, aber ein Löwenherz. Sie ist jetzt Jeanne d'Arc in Leipzigs Farben (Blau-Gelb, zur Erinnerung). Also wird sie sich opfern, wenn nur Marie kein Schaf ist. Sie brüllt, sie blökt nicht mehr, das Meckern ist abhanden gekommen. Sie brüllt um Hilfe, man wolle sie verhaften, Hilfe, der Stasi sei hinter ihr, meiner Tante, hinterher. Das wäre unglaubhaft im großen Gleisbereich des Leipziger Hauptbahnhofs, wenn nicht gar so viele Uniformen herumstünden, wenn nicht dieser Tag im Juni wäre, wenn das Wetter nicht so schön gewesen wäre, daß die Reisenden aus Magdeburg sich aus dem verspätet einfahrenden Eilzug nicht ganz so schnell auf den Bahnsteig gedrängt hätten, eine Karawane, die hört meine Tante, die sieht zwei stämmige junge Beamte in Zivil, einer mit der Hand an der Nase hinterher. Meine Tante, Josefa mit Namen, eine im übrigen impulsive Dame in den Fünfzigern, hat jetzt die Kurve in die Westhalle gekriegt und ein Gespür für Wirkung. Was den Magdeburgern Recht ist, soll ganz Leipzig billig werden, und vom mittleren Treppenabsatz schreit sie ihre Stationsschwesternstimme in die dröselnde Menge vor den Fahrkartenschaltern, was diese bisher nicht wahrhatte. Hilfe, der Stasi sei hinter ihr her, Hilfe, sie solle verhaftet werden. Auch dies erscheint insofern glaubhaft, als Josefa Pohl sich urplötzlich von zwei beschämt dreinblickenden Herren umgeben sieht, deren Jägerblick nun etwas nachgelassen hat. Die Leute da unten, Sachsen zumal, haben für wenige Sekunden ein Schauspiel vor Augen, das sie an diesem Tag zum Nachdenken und zu schnellen Bemerkungen anreizt. Einige Omas vorne am Blumenladen wollen es Leipziger Art zufolge genau wissen und beginnen, hastig zwar, doch in Würde, die alten Steintreppen zu erklimmen. Meine Tante Josefa ist inzwischen puterrot im Gesicht, und Unkundige glauben dann meist, jetzt stünde der Kollaps vor der Tür, aber sie kennen eben meine Tante noch nicht. Sie schnappt gerade nach Luft für die nächste Verbalattacke, da hält ihr der Nasengeschädigte plötzlich die Hand vor den Mund, in die jene Dame in den Fünfzigern sofort entschlossen ist kräftig hineinzubeißen, trotz aller Aids-Gefahr, die auch noch von der Nase herrührt, aber das ist ihr, meiner Tante, der jüngeren Schwester, in diesem Moment natürlich egal, und deshalb rührt der Aufschrei auch vom Manne her, jenem, der sie einpacken wollte. Jetzt ist es zu spät. Junge Männer treten herzu, wenige zur Mittagszeit, aber welche. Sachsen von unten und Sachsen von hinten, denn Magdeburg gehört nach Sachsen-Anhalt. Die Halle füllt sich auf, vor und hinter den Treppen, schnell macht sich breit, was jeder sieht. Meine Tante im Mittelpunkt des Geschehens. Das hat sie sich eingestandenermaßen ihr ganzes Leben gewünscht. Die Hand ist bereits entfernt und mit einem Taschentuch aus Magdeburg umwickelt worden, kundig macht sie gleich den Verbandsknoten, während sie, etwas abgerötet, in die Menge der Umstehenden posaunt, was bis vor einer Viertelstunde nur sie hier wußte. Es gehen keine Züge nach Böhlen mehr, seit zwei Tagen ist jeder Kontakt mit der Stadt unterbrochen. Ihr Sohn, Doktor an der dortigen EOS, sie kann es vor der gesamten Ansammlung nicht verschweigen, nein Geltungssucht ist es nicht, sie ist einfach stolz auf ihn und die Kinder, und es stört sie nicht, daß die Leute ihn jetzt für einen Arzt halten werden, der zum Helden wird, obwohl es in Böhlen gar keinen Doktor Pohl gibt, jedenfalls keinen praktizierenden Arzt dieses Namens, denn Thomas ist Lehrer, obzwar promoviert, also der Doktor an der EOS, so wird es die entscheidenden Tage weitergegeben, und die gesamte Schule samt Stadt sind abgeriegelt, weil sie in Streik gegangen sind wegen der Wahlfälschungen, und man weiß nicht, was passiert, gerade jetzt, meine Tante meint die Bomben und Gewehre, die Magdeburger und Leipziger, auch welche aus dem Umland und natürlich ortsunkundige Fernreisende, darunter auch eine Anzahl Westdeutscher, beratschlagen jetzt, aber meine Tante Josefa kürzt das ab und erklärt, weit entfernt jeder Hysterie, aber Jeanne d'Arc steht ihr gut, findet sie, die da wollten sie verhaften, weil sie das an die westdeutsche Botschaft weitergegeben hätte, und das beweise alles, und jetzt müsse man demonstrieren. Und zwar bis zum Rathaus! Von hier aus also nahm alles seinen Anfang, was später in unseren Geschichtsbüchern stehen wird, unweit der Tafel, an der im Jahre 1918 die Soldaten in Leipzig sich auf dem Hauptbahnhof sammelten, um die Stadt mit roten Fahnen zu schmücken. Fahnen hat man gemeinhin nicht dabei, wenn man des Mittags zur Gleisbeschau auf das Bahnhofsniveau tritt, um anschließend zu telephonieren, weil man noch nicht weiß, daß gleich danach eine große Demo ansteht. Die Fahne hätte ihr jetzt gut gestanden, bedauert Tante Josefa, aber auch ohne geht's los aus der Westhalle auf die Ringstraße, wo das mittägliche Straßenbahnvolk mit Sprechchören umworben wird, die zum Anschließen an den Zug, also den Demonstrationszug, und für die Freiheit des Doktors in Böhlen, desgleichen für die gleichnamige Stadt, gleich darauf auch für Leipzig und etwas später auch für Magdeburg aufrufen. An diesem Tag, denn geschichtsmächtige Tage sind immer dadurch ausgezeichnet, daß eine gewisse Kontaktbereitschaft besteht, war das alles nicht mehr das Problem. Die Beschallung der Leipziger Innenstadt nahm Phonstärken an, die die zunächst noch ziellosen Hunderte zu Tausenden anschwellen ließ. Noch bevor der Marktplatz erreicht war, waren die ausländischen Reporter da, wovon der bundesdeutsche, der vor der Nikolaikirche auf die hier allwöchentlich stattfindende Ausreisedemo wartete, zufällig das Aufnahmegerät bei der Hand hatte, das bei der Überspielung in Ost-Berlin am späten Abend die genaueste Wiedergabe ermöglichte und über die Friedrichstraße noch gerade zur rechten Zeit für die Tagesthemen kam. Seine Telephonversuche gleich darauf waren, auch im Gebiet der DDR, umsonst gewesen, was mit dem Fräulein vom Amt zu erklären ist, das die Handtasche vergessen hatte und wenige Minuten lang zur wichtigsten Figur für den Staatssicherheitsdienst in einer untergehenden Republik wurde, ein Umstand, der ihr später vor dem Untersuchungsausschuß keine Nachteile eintrug, sie war ja nur vom Amt.

Meine Tante kam ungerechterweise nicht auf die Kassette, die am Abend in überwiegend sächsischem Tonfall ausführlich in den Tagesthemen vor einem stehenden Bild des Leipziger Alten Rathauses vorgespielt wurde. Dafür war sie in vorderster Linie auf dem Bild des britischen Reporters zu sehen, das drei Tage darauf, als alles schon vorbei war, um die Welt ging, es machte ihn plötzlich um einiges reicher. Meine Tante wäre ja geplatzt vor Stolz, deshalb bin ich froh, daß sie davon eigentlich noch nichts weiß. Während die brüllenden Sachsen der im übrigen ziemlich lautlos durchgeführten Erstürmung des heimischen Neuen Rathauses entgegengingen, das die Magdeburger noch gar nicht genau kannten, aber die waren jetzt eh in der Minderzahl, saß Marie Graw, meine Mutter, auf dem Telephonhocker und ließ sich, etwas errötend, mit der regionalen Station Oldenburg des NDR verbinden, weil die Herren der Lokalzeitung meinten, wenn, dann hätten die daran Interesse. Es lag auch nur daran, daß ein ehemaliger Klassenkamerad von mir an diesem Tag Redakteur war im Studio, der mal zwei Artikel in unserer Schülerzeitung geschrieben hatte und deswegen von meiner Mutter beim Nachhausegehen dermaßen vollgelabert worden war, daß er sich mühelos an sie erinnerte. Aber das sagte er ihr nicht, denn sonst wäre die Botschaft, um die es in diesen geschichtsträchtigen Minuten ging, auch nicht herübergekommen, jedenfalls nicht vor dem Mittagessen, das mein alter Herr pünktlich um 13 Uhr 30 in unserem Wohnzimmer einzunehmen pflegt. Meine Mutter erkannte meinen ehemaligen Klassenkameraden nicht, der übrigens leider eher dem rechten Spektrum unserer Parteienlandschaft zuzuordnen ist, weshalb er an diesem Tage auch dort saß und nicht etwa ich, wie ich bemerken möchte, denn ich hätte meine Mutter selbstverständlich auch ernst genommen, obwohl man bei Tante Seffchen nie so richtig weiß. Jedenfalls sagte sie dem Carsten, so heißt er, daß ihre Schwester Josefa aus Leipzig, ihre jüngere, nicht die Jüngste, das sei die Eri, außerdem habe sie noch einen Bruder, Conna mit Namen, die wohnten aber alle in Leipzig, weshalb sie also anrufe, denn ihr Neffe Thomas in Böhlen sei anscheinend von Gott und der Welt abgeschnitten die letzten Tage, und ihre Schwester sorge sich darum und ob sie ihn nicht kenne, ihren Sohn, der in Bielefeld Geschichte studiere, ach was rede sie, der sei ja schon längst fertig und mache seinen Doktor, aber nicht als Arzt, also ihr Sohn Georg, das bin ich, habe mal einen Herrn gehabt, der für diese Schülerzeitung und der. Hier wurde erneut unterbrochen, es war keine blutende Hand wie noch Minuten zuvor, sondern die höfliche Frage, warum gerade in Böhlen, wo das läge und wie ihre Schwester auf welche Gedanken komme. Ich kenne Carsten nicht so genau, aber irgendwas muß er in dem Job gelernt haben, denn aus meiner Mutter holte er in einem ellenlangen Gespräch neben den Döntjes über das letzte Verwandtentreffen auch die Geschichte mit Seffchens düsteren Prophezeiungen über ihres Sohnes Umtriebe in Wahlprüfungskommissionen hervor, über ihre dauernde Angst, da passiere noch mal was, und was anderes könne das mit Böhlen jetzt nicht sein. Da stand mein Vater in der Tür, das Gespräch wurde beendet und nicht mehr fortgesetzt, er mußte noch ein halbe Stunde auf das Mittagessen warten, in welcher Carsten seine Meldung zusammenschrieb, die noch vor den 14-Uhr-Nachrichten beim Nachrichtensprecher in Hamburg war. Gut informierten Kreisen zufolge, hieß es da, und zwar nur, weil Carsten, der meiner Mutter noch von damals glaubte, ein Gespräch mit Ost-Berlin vorgetäuscht hatte, das so erst drei Tage später, dann aber als Sondersendung im Ersten stattfand. Die Handtasche befand sich damals auf dem Fundbüro in Leipzig, weil das Fräulein so beschäftigt gewesen war, daß es sie vergaß und die Putzfrau sie ablieferte. Die hatte, weil sie aus Klein Zschochau kam, von allem nichts mitgekriegt. Nachher, als auch sie ins Fernsehen kam, schilderte sie das eher belanglose Täschchen in den schönsten Farben, wobei ihr Dialekt besonders grell hervortrat. Aber das ist eine andere Geschichte. Die Handtasche meiner Tante Josefa liegt jetzt im Deutschen Historischen Museum in Berlin. 10.9.89, 22.15 Uhr