„Bräsigkeit“ gegen „Unseriosität“

■ Aids-Experten diskutieren kontrovers über HIV-Test / Kann das Medikament AZT Infizierte länger vor Vollbild Aids schützen?

„Ich kann nicht umhin, Ihnen wissenschaftliche Bräsigkeit vorzuwerfen“, sagt der Münchner Aids-Spezialist Dr.Hans Jäger. Der so angegriffene Dr.Rolf Rosenbrock, Gesundheitswissenschaftler aus Berlin, schießt zurück: „Und ich werfe Ihnen wissenschaftliche und medizinische Unseriösität vor!“

Schauplatz dieser ungewohnt harten Kontroverse war letzte Woche die TU. Auf dem Podium saßen die Kontrahenten zwar einträchtig nebeneinander, ihre Überzeugungen zum HIV-Test aber könnten nicht weiter auseinanderliegen. Anlaß des Wortgefechts war Jägers öffentlicher Aufruf an die Hauptbetroffenengruppe, sich auf HIV-Antikörper untersuchen zu lassen. Bisher dem Test gegenüber eher kritisch eingestellt, hatte der Kurswechsel des bei den Betroffenen wohlgelittenen Mediziners hohe Wellen geschlagen. Warum diese Kehrtwendung? Jäger verwies auf die Montrealer Aids -Konferenz im Juni, wo neue Studien den sehr frühen Einsatz der Medikamente AZT und Pentamidin nahelegten. AZT gilt als eins der wenigen wirksamen Mittel gegen das Virus, und Pentamidin hat sich als wirksame Vorbeugung der gefährlichen und häufig auftretenden Lungenentzündung PCP erwiesen. Das war bisher schon bekannt, sensationell neu aber: Die Medikamente wurden zwar Menschen mit geschwächtem Immunsystem gegeben, die allerdings bisher völlig ohne Beschwerden lebten. Jäger: „Mit frühzeitig verabreichtem AZT ist man stärker davor geschützt, das Vollbild Aids zu entwickeln.“

70.000 zum HIV-Test?

Ein erster Hoffnungsschimmer also für alle, die sich bisher einer tödlichen Ausweglosigkeit gegenübersahen. Voraussetzung ist allerdings das Wissen darum, ob man infiziert ist oder nicht. Die Zahl der nichtgetesteten Infizierten schätzt Jäger auf 60.000 bis 70.000. Die Testfrage sei dann neu zu stellen, setzte Dr.Rosenbrock dagegen, wenn der Verlauf der Krankheit verlangsamt oder diese früher behandelt werden könne. Die vorliegenden Daten halte er allerdings für völlig unzureichend. „Sowohl die erwünschten wie die unerwünschten Wirkungen von AZT sind weiterhin unklar!“

Er kritisierte die Anlage der Studien, bei denen symptomlose Infizierte und Menschen mit milden Symptomen vermischt worden seien, bemängelte, daß bisher nichts über eine mögliche Verlängerung der Lebensdauer bekannt sei, weil es noch keine Langzeituntersuchungen gibt, und wies auf die ungeklärte Frage der Nebenwirkungen hin; AZT ist ein Medikament mit teilweise beträchtlichen Nebenwirkungen.

„Dies sind mickrige Studien!“, rief Rosenbrock. Er bestehe weiterhin auf einem strengen Arzneimittelgesetz und wolle sich nicht medizinischen Moden unterwerfen, die von Panik diktiert seien. Zu einer möglichen großen Testwelle merkte er an: „Die Aktien des AZT-Herstellers Wellcome sind am Morgen nach der Veröffentlichung der Studien um eine Milliarde Pfund gestiegen.“

Niemand auf dem Podium bestritt, daß die vorliegenden Studien dem üblichen Standard keineswegs entsprechen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob man sich Langzeituntersuchungen über viele Jahre hinweg angesichts der rapide wachsenden Bedrohung durch Aids wird leisten können, und ob diese dramatische Krankheit nicht auch ungewöhnliche und damit risikoreiche Herangehensweisen verlangt.

Akademisch läßt sich die Frage durchaus diskutieren, ganz anders stellt sie sich allerdings für Infizierte, die sich etwa sagen: Momentan sind meine Chancen gleich Null, also gehe ich doch lieber die möglichen Risiken durch eine frühzeitige Einnahme von AZT ein.

Überraschend übersichtlich war die Stellungnahme der Deutschen Aids-Hilfe. Uli Meurer: „Unsere negative Haltung zum Test hat sich nicht geändert!“ Er begründete dies u.a. mit den psychischen, sozialen und juristischen Problemen, die sich aus einem positiven Test ergeben können und verwies auf das Karlsruher BVG-Urteil, nach dem ein HIV-Positiver verurteilt wurde, obwohl er sich an den Regeln des Safer Sex orientiert hatte. „Wir können nicht die Leute zum Test aufrufen“, sagte Meurer, „angesichts der Tatsache, daß zur Zeit 140 Verfahren gegen Menschen mit HIV und Aids anhängig sind.“ Im Beratungsgespräch werde man intensiv über alle neuen Erkenntnisse informieren, generell aber gebe man keine Testempfehlung ab. Was bleibt für die Menschen, die fürchten, infiziert zu sein? Bisher schon war die Entscheidung für oder gegen den Test mit vielen Fragezeichen versehen - nun ist noch eins hinzugekommen. Eine neue Qualität wird sichtbar, denn es besteht die Hoffnung, daß in der Aids-Therapie Fortschritte gemacht werden. Und dies war bisher nicht gerade häufig zu vermelden.

Matthias Frings