Fast-Freund und Künstler-Künstler

■ Andre Thomkins zur Weiterreise nach Luzern

In Berlin, am neunten November, war er tot zusammengebrochen, fünfundfünfzigjährig, vor vier Jahren: Andre Thomkins. Die Kollegen von der Akademie der Künste beschlossen „spontan“, als sie „die schreckliche Nachricht von seinem Ableben erreichte“, ihn mit einer Retrospektive zu ehren. Die Ausstellung, die am Sonntag zu Ende geht, wird am zehnten März in Luzern noch einmal eröffnet werden.

In Luzern (deutschsprachige Schweiz) ist Thomkins geboren, seine Großmutter sprach nur, die Mutter auch Französisch, sein Vater - Architekt - war englischer Herkunft. Auf die Frage, wo er am liebsten sei, hat Thomkins später geantwortet: „Überall, aber schwebend“. Und schwebend entkam er dem dritten Semester der Kunstgewerbeschule Luzern und landete in Essen, wo ihm Eva Thomkins fünf Kinder gebar und nebenher als Lehrerin die nächsten zwanzig Jahre das Geld zum Leben verdiente. „Fressen“ nannte Thomkins - wegen der Bindung an den Arbeitsplatz seiner Frau - die Stadt, die kaum Eingang in sein Werk fand: Nur ein Blatt zeigt eine düstere Straße mit verwaschenen Figuren, „La Rue sans Joie Essen“ (1958); Thomkins war fremd in der Welt, und „überall, aber schwebend“ allein auf dem Papier.

Thomkins war ein Meister der Miniatur, ein Geheimkrämer der Sprache, ein liebevoll manieristischer Antimodernist. Zu seiner Lektüre gehörten entlegene Werke wie Francesco Colonnas „Hypnerotomachia Poliphili“ (Venedig, 1499), sein visuelles Gedächtnis verbindet da Vinci und Arcimboldo; Klee und Dali. Mit sicherer Hand montierte er ihre Bildwelten zu wüsten Kleinstnotizen; Menschen springen wie Hürdenläufer durch puzzleartige Farbfelder, transparente Maschinen wuchern über mehrere Etagen, über dem friedlichen Ambiente eines mit mönchischer Geduld gepinselten Gartens ruht ein göttliches Auge. Vor dem Kitsch fürchtete sich Thomkins nicht, aber vor der Routine. Nie findet er zu einer geschlossenen Ikonographie.

Einigen Erfolg hatte Thomkins in den siebziger Jahren, als Symmetrien und kreisrunde Weltbilder beliebt waren. Auch andere Merkmale der Hippiekultur finden sich in seinem Werk von Zeichnungen und Objekten aus Pappe, Fundholz, Gummi (von „bricolages“ spricht er mit Bezug auf Levi-Strauss): verschlungene Perspektiven, verstiegenene Erotomanien, die Organ-isierung von Architektur.

In seiner Werk-Welt, die geschlossen ist und folglich nur im Innern wandelbar, schüttelt er seine Merk-Wörter zu Anagrammen und Palindromen (Kehrwörtern): DOGMA I AM GOD, die symmetrische Aporie, der Ulk als Offenbarung. Innerhalb der NORMHANDKISTE bleibt ANDRETHOMKINS immer DENKHARMONIST. Hätte er Plattencover gemacht oder Songtexte, er hätte wohl den Weg zu einem Publikum gefunden.

Statt dessen blieb Thomkins Künstler unter Künstlern, Freund im Schatten der Fluxus-Größen Spoerri, Filliou und George Brecht. Selbst seine größte Ausstellung zu Lebzeiten (Den Haag, 1978) war begleitet von „mehr als 90 Bildern von Freunden“ (so der Sammler Hans van der Grinten). Und auch auf dieser letzten Retro - „nach anfänglicher Begeisterung im In- und Ausland“ (Katalogvorwort) nicht mal nach (Fr)Essen übernommen - sind Werke der Freunde zu sehen. Aber merkwürdig, auch von den alten Freunden - einst Witzbolde gegen ein humanistisch vergreistes Europa, jetzt Museen ihrer selbst - kommt jene Wärme und Sorgfalt nicht zurück, die Thomkins nachgesagt wird. Ein kalter Wind von Gleichgültigkeit weht durch den wirren Bau von Stellwänden unter Neonlicht im großen Saal der Akademie, den die Ausstellungsmacher irrtümlich für ein „Labyrinth“ halten. Eberhard Roters schreibt über Thomkins im Katalog: „Ein Stück Tischfläche oder auch nur Handfläche, groß genug, um im Kern eines kontemplativen Lampenscheinkreises Platz zu finden, genügt ihm“: keine Spur dieser häuslichen Intimität in der Akademie. Und das, obwohl es draußen friert und schneit.

Nun ist aber auch jemand wie Thomkins - unwillkürlich wird er zum Beispiel - schwer zu retten. Denn die Frage, wie sein Werk so zu zeigen sei, daß dem öffentlichen Betrachter mehr als das Werk, also der Kontext von Arbeit und Leben, erscheint, ist eine Frage an das Werk selbst. Ist es nicht ein Werk zum Blättern und Wühlen; ein Werk für Bücher (ganz gleich, ob Unikat oder Druckwerk); oder ein Werk aus Einzelwerken, die ihre Wirkung gegenseitig auslöschen? (Man müßte dann eins, aber nur eins besitzen.) Bei Klee sind die Zeichnungen allein ein „Werk„; Duchamp dagegen hat sich aufgelöst in der Theorie, seinem „Werk“ zu begegnen kommt einer Enttäuschung gleich. DOGMA I AM GOD: Wenn Thomkins sich von hinten (über das Werk) nicht liest, wie dann von vorn?

Der Textband des Doppelkatalogs buchstabiert sich wie die auf zwanzig Rollen verteilte Rede eines schlechten Gewissens. Thomkins wird ein zweites Mal zu Grabe getragen, nur ist der Sarg diesmal so verdächtig leicht wie der Katalog schwer ist. Schlüsseltext ist das Interview des verantwortlichen Ausstellungsmachers der Akademie, Christian Schneegass, mit Daniel Spoerri. Spoerri erzählt die Geschichte der Künstlerfreundschaft so, daß sich der Eindruck ergibt, Thomkins‘ Marginalität wäre eine Art sympathisches Versagen: „Zigaretten und Fettleibigkeit, das waren die beiden Dinge, die ihn geschafft haben.“ Aber er weiß wenig über seinen Freund: warum er nicht die eigenen Träume illustrierte, sondern die anderer; warum die Zusammenarbeit, mehrfach geplant, niemals klappte; oder warum die „Stabilität in der Familie“ (Spoerri) zerbröselte, als Thomkins knapp fünfzig war.

Thomkins zog nach Zürich, später nach München, war Stipendiat in Berlin und in diesen Jahren mit zwei weiteren Frauen zusammen. Er ist wohl kaum damit fertig geworden, ein „Künstler ohne Werk“ (Spoerri) zu sein: Mit Ölbildern versuchte er zweimal, um 1960 und in seinem letzten Jahr, den Rahmen zu festigen, in dem das Projekt „Künstlerleben“ stattfand. Sie sind bunt und trostlos, nur eins nicht: schwebend.

So bietet die Thomkins-Retro ein unfreiwilliges Beispiel dafür, wie schwer es ist, jenseits gewaltsamer Ikonographien (stürzende Figuren/gestreifte Objekte) oder spät -avantgardistischen Getöns ein Werk auf seinen Beweggrund, auf seinen angeborenen Herzfehler hin zu lesen. Noch schielen wir nach dem vermeintlich offenen Horizont, nach dem Gen-Trick, nach der Gewaltlösung, nach den Massen. Der Künstler-Künstler bleibt allein; was seine Qualität war, könnte man beginnen zu entziffern, sobald man nur wüßte, wo der Text beginnt.

Ulf Erdmann Ziegler

Andre Thomkins, „labyrinthspiel“ - Retrospektive. Akademie der Künste in West-Berlin, bis zum 3.12.1989, täglich bis 20 Uhr. Kunstmuseum Luzern, 10.3.-22.4.1990