„Nie mehr bescheiden, nie mehr stumm“

■ Reaktionen von DDR-Übersiedlern auf die Senatsverordnung, den Zuzug von DDR-Bürgern nach West-Berlin stark zu begrenzen / Neid und verstärkte Konkurrenz unter den Übersiedlern / Starke Ressentiments gegenüber Polen und Vietnamesen

Viel Staub wirbelt die Entscheidung des Senats auf, künftig die Zahl der Übersiedler aus der DDR zu beschränken. Ausnahmeverfahren für DDR-Übersiedler werden künftig nur noch dann in Berlin durchgeführt, wenn sie Verwandte ersten Grades in der Stadt haben. Alle anderen müssen zum Aufnahmeverfahren in die BRD. CDU und „Republikaner“ ergreifen die Gunst der Stunde und kochen ihr ausländer- und fremdenfeindliches Süppchen. Unverhohlen spielen sie Flüchtlinge gegen Übersiedler aus. Was sie dabei verschweigen: Berlin hat in den vergangenen Monaten mehr DDR -Übersiedler aufgenommen als irgendein anderes Bundesland. Statt der mit der Bundesregierung vereinbarten drei bis vier Prozent ließen sich Ende November 7,2 Prozent aller Übersiedler in Berlin-West nieder. Eine im besten Sinne „republikanische“ Polemik ist die Argumentation Eberhard Diepgens, der dem Senat vorwirft, „Flüchtlinge aller Herren Länder mit offenen Armen“ aufzunehmen. Der Aufnahmequote von 7,2 Prozent bei den Übersiedlern stehen 2,8 Prozent bei den Asylbewerbern gegenüber. Die taz fragte im Aufnahmelager an der Marienfelder Straße nach, wie die Übersiedler auf die neue Situation reagieren.

„Wenn wir ehrlich sind, ist für uns die Neuregelung besser. Seit drei Wochen leben wir in einer Turnhalle und haben keine Aussichten, dort einmal rauszukommen. Deshalb begrüßen wir die Entscheidung. Die augenblickliche Situation bringt doch für uns alle nur Nachteile“, so die Erfahrung von Frau L.

Empört ist dagegen der Kellner K. aus Ost-Berlin: „Ich finde es eine Schweinerei. Sollen sie doch lieber die ganzen Polen und Vietnamesen rausschmeißen. Ein Berliner, der jahrelang neben der Mauer gelebt hat, sollte auch nach West -Berlin reinkommen.“ Kein Verständnis hat K. dafür, daß die mehr als 500 Vietnamesen, die wie er die Öffnung der Mauer nutzten, um in den Westen zu flüchten, ebenfalls Hilfe und Unterstützung bekommen.

Maroin und ihr Freund dagegen haben Verständnis für die Entscheidung des Senats. Dennoch sind sie sauer, daß es gerade sie trifft. „Ich kam gestern hier an und werde natürlich versuchen, mit allen Mitteln hierzubleiben. Meine Mutter und Verwandtschaft wohnen in Ost-Berlin, da wäre es hart, wenn ich in die BRD müßte.“ Ob er vorher von der Neuregelung gewußt hätte, ist er sich nicht sicher. „Aber ich glaube nicht. Die Reisefreiheit bringt ihm ja nicht viel, wenn man nicht das Geld dazu hat, sie dann auch zu nutzen. Deshalb bin ich auch rübergekommen. Ich will mit meiner Arbeit das Geld verdienen, mit dem ich dann auch etwas anfangen kann.“

Die Familie Hermann aus Hohenschönhausen stört sich weniger an der polnischen und vietnamesischen Konkurrenz um Arbeitsplätze und Wohnraum. Sie ist verärgert über die Landsleute aus der DDR. Mit der anarchischen Fluchtwelle via Ungarn, CSSR und die Grenzübergangsstellen machten ihnen die Flüchtlinge einen Strich durch die Lebensplanung. „Die sind uns zuvorgekommen. Haben schon Arbeit und Wohnungen, und wir sollen jetzt in die Bundesrepublik. Wir werden jetzt dafür bestraft, daß wir einen ordnungsgemäßen Ausreiseantrag stellten und die ganze zeitaufwendige Prozedur durchliefen.“

Nicht gut zu sprechen ist Frau Hermann auf all die, die jetzt aus der DDR in den Westen kämen, „nur weil sie hier Arbeitslosengeld und die Sozialleistungen kassieren wollen“. Im Gegensatz zu diesen „Elementen“ wolle sie für „ihr Geld fleißig und hart arbeiten“. Ihre Zukunft in Deutschland-West sehen sie durch die Hänger aus Deutschland-Ost bedroht. „Man muß sich die Leute doch nur einmal anschauen, mit wem man es zu tun hat. Es ist erschreckend. Die wären in der DDR besser aufgehoben, weil da der Staat seine schützende Hand über gewisse asoziale Elemente hält.“

Auch Polen gegenüber hat sie Ressentiments: „Die schlauchen sich doch überall nur durch. Daß da auf östlicher und westliche Seite nun ein Riegel vorgeschoben wird, ist richtig.“ Polen seien arbeitsscheu und würden ständig nur große politische Reden schwingen, ist Frau Hermann überzeugt.

Auf die Frage, was nach der Revolution in der DDR der Grund für eine Ausreise ist, antwortet Frau Hermann prosaisch: „Ich halte es mit Gitte, die singt: 'Niemals mehr bescheiden, niemals mehr stumm.‘ Wir wollen reisen, uns etwas aufbauen und genießen.“

Karl Müller interessiert die neue Senatsverordnung wenig. „Da ich in der Landwirtschaft arbeite, ist Berlin wohl nicht der richtige Ort für mich. Ich fliege morgen nach Westdeutschland.“

Eberhard Seidel-Pielen