Genschman schläft und Baker spricht

■ US-Außen Baker wärmte beim Mittagessen mit Presse und Honoratioren noch mal die Thesen seines Chefs auf / Lob der Wahlurne / „Freedom City“ langweilte sich und tauschte bei Tisch lieber Selbsterfahrungen über das DDR-Telefonnetz aus

Genschman, der Vielreiser, schläft mit offenen Augen und scheint tief in seinen Herzmuskel hinein zu hören, während hinter ihm James A. Baker III, Außenstürmer unserer Lieblingsschutzmacht über KSZE-Körbchen und New Atlanticism plaudert. Es geht um den weltweiten Sieg unserer Ideen und Werte, eine möglichst kontrollierte Wiedervereinigung, bitte peaceful und im US-europäischen Interesse.

Die summary des kalten Krieges, den sowieso die Russen angezettelt haben, ist zum Gähnen, auch bei Osteuropa 1961 Gefangenenlager der Nationen horcht niemand auf. Das Bekenntnis zur Wahlurne und zum freien Markt als Instrument der freien Auswahl der Völker reißt right here in freedom city keinen vom Sessel. Auch wenn Momper mit Lesebrille sehr interessiert aussieht, historisch ist Bakers Rede nicht, eher die Wiederholung der Worte seines Herrn von Malta/Nato-Gipfel. We are all Berliners, Gorbi kommt kaum vor, und wenn, dann als Russe, der vernünftig geworden ist. Lech, der Brave aus Polen, kriegt ein paar Sätze mehr, schön, daß er sich so nett vor dem US-Kongreß bedankt hat. Klar, daß die amerikanischen Gründerväter in Leipzig mit auf der Straße waren.

Der Großberliner Tisch vorm Rednerpult, mit Schutzmächten und West-Regenten, erhebt sich und die Gläser zuerst, auch die zugehörigen Damen am Nebentisch stehen auf, Prost auf die deutsch-amerikanische Freundschaft. Auch an den Tischen ringsum mit den Köpfen der städtischen Glaubensgemeinschaften, Unternehmen, Verwaltungen und Medien richten sich die Sektkelche auf Baker aus. Kurz und feierlich, dann kann der Lachs kommen.

Rechtschaffene Enttäuschung über den so ganz und gar nicht großen Moment. Der Siemens-Direktor findet die Rede ratlos, aggressiv und unkonkret. Er sucht Trost im Tischgespräch und berichtet kurz vorm Entrecote noch über die Anstrengungen der Firma, den Auftrag zum Ausbau des DDR -Telefonnetzes zu kriegen. Achtung! Die Japaner und Franzosen stehen vor der Tür. Noch vor Weihnachten tritt Mitterand bei Modrow an. Das wäre doch schon komisch, wenn ausgerechnet die Mark Brandenburg sofort europäisiert würde. Den Müggelsee wolle man ja gar nicht gleich aufkaufen, aber die Siemensschen Familiengrundstücke bei Potsdam seien schon interessant. Bisher habe man da nicht mal an den Zaun rantreten dürfen, und nun riefen die schon an. Kommt her, macht Pläne, baut. Auch der Korrespondent der 'Westfälischen Rundschau‘ beklagt sich bitterlich über die marode Telekommunikation im Osten. Statt in Marzahn ist er per Wählscheibe schon des öfteren in Belgien oder Frankreich gelandet. Das Netz ist von 1921 und wurde zuletzt bei der Olympiade '36 noch mal modernisiert, pflichtet der Tischnachbar zur Linken bei. Während er die Bohnen im Speckmantel entkleidet, erzählt der Mann von der Ständigen Vertretung von seinem Einfamilienheim in Pankow. Typ „Gera“, einstöckig, die ganze Straße lang alles gleich, Toilette, Küche, Schlafzimmer überall am gleichen Platz. Angenehm, im Osten zu wohnen, weniger Hektik. Nur die bläulichen Abgase stören bei den morgendlichen Dienstfahrten, und daß das Pankower Häuschen in der Einflugschneise des kommenden Großluftkreuzes Tegel liegt. Der Verlagsmensch vom 'Tagesspiegel‘ und der Generalstaatsanwalt haben Schalck-Golodkowski und die Kalorien der Marzipannachspeise beim Wickel. Muß das Abendessen heute ausfallen? Soll der Devisenbeschaffer weiter im Knast schmachten? Das mit der Unterschlagung sei ja auch bei uns kriminell, meint Herr Tagesspiegel, aber daß die Devisenbeschaffung, die Schalck gut und gewissentlich betrieben hat, nun plötzlich strafwürdig sein soll? Der habe doch nur jahrelang getan, was seine Pflicht und Aufgabe gewesen sei. Hafenarbeiterstreiks in England finanzieren und Interventionskäufe, wenn die Schuhe knapp wurden. Über Fluchtgefahr und Haftverschonung wird man sich nicht einig, schon gar nicht über die mögliche Auslieferung.

Dann werden rasch Visitenkarten und Händedrücke ausgetauscht, die Arbeit ruft. Auch James A. Baker ist schon weg. Er will mit Modrow sprechen.

kotte