Arbeitsmarktsituation erfordert weitere Arbeitszeitverkürzung

Harter Arbeitskampf erwartet / Verzicht auf 35-Stunden-Woche kein Solidarbeitrag für die DDR / Interview mit Klaus Lang - Leiter der Tarifabteilung beim Vorstand der IG Metall  ■ I N T E R V I E W

taz: Die IG Metall rechnet damit, daß es in diesem Jahr zur härtesten Tarifauseinandersetzung überhaupt kommen kann. Es wird immer wieder betont, daß es diesmal „ums Ganze“ gehe, um die Zukunft der Tarifautonomie und auch um die Zukunft der Gewerkschaften. Warum ist die Lage so dramatisch?

Klaus Lang: Nicht wir haben das Thema Tarifautonomie in diese Auseinandersetzung hineingebracht, sondern schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Bundeswirtschaftsminister Haussmann, der gefordert hat, man müsse den Gewerkschaften politisch verbieten, überhaupt Arbeitszeitverkürzung zu fordern. Das war mehr als die in der Vergangenheit übliche Einmischung in Tarifauseinandersetzungen. Das war ein Stoß in Richtung Beseitigung der Tarifautonomie selbst. Darum geht es, wenn wir jetzt Arbeitszeitverkürzung und Einkommensverbesserungen fordern, auch um die Sicherung des eigenständigen Rechts der Gewerkschaften, ihre tarifpolitischen Ziele und die Art und Weise der Durchsetzung selbst zu bestimmen.

Durch die Entwicklung in der DDR wird die Durchsetzung der Arbeitszeitverkürzung nicht leichter. Die Ereignisse dort lassen die Schattenseiten unseres Wirtschaftssystems, gerade auch die Arbeitslosigkeit, nahezu unwichtig erscheinen.

Wir haben es vielleicht dadurch schwerer, die Arbeitslosigkeit, die Arbeitszeitverkürzung und die Frage der Verteilungsgerechtigkeit in der Öffentlichkeit zum Thema zu machen. Aber man muß doch sehen, daß der ungeheure Zustrom von Arbeitskräften - im vergangenen Jahr waren es 700.000 Aus- und Übersiedler, und 1990 ist mit einer ähnlichen Zahl zu rechnen - die Notwendigkeit einer anderen Verteilung von Arbeit, und damit Arbeitszeitverkürzung nur unterstreicht und keineswegs vermindert. Schon jetzt sagt die Bundesanstalt für Arbeit in ihren Prognosen, daß die Arbeitslosigkeit im nächsten Jahr wieder wachsen wird. Dies wird durch die Aus- und Übersiedler noch verschärft. Wenn wir hier nicht einen unmenschlichen und unsozialen Konkurrenzkampf um Arbeitsplätze entbrennen lassen wollen, verlangt diese Entwicklung ein rascheres Tempo der Arbeitszeitverkürzung.

Es bleibt also bei der Strategie der IG Metall?

Ich halte überhaupt nichts davon, daß man jetzt im Rahmen einer Verzichts- und Opfermentalität sagt, man müsse jetzt auf Einkommenverbesserungen und Arbeitszeitverkürzung verzichten. Damit wird weder den Menschen in der DDR noch denen hier geholfen.

Die 30-Stunden-Woche steht für die IG Metall nicht mehr auf der Tagesordnung, so der IG-Metall-Vorsitzende Franz Steinkühler. Man hat sich für die Zukunft also schon verabschiedet vom gesamtgesellschaftlichen Projekt für eine humanere Gesellschaft durch Arbeitszeitverkürzung. Lohnt sich da überhaupt noch der Kraftakt für die 35-Stunden -Woche?

Die 30-Stunden-Woche steht jetzt nicht auf der Tagesordnung, dies hat Franz Steinkühler vor wenigen Tagen gesagt. Wir haben, und dies ist wichtig, auf unserem Gewerkschaftstag im Oktober eine tarifpolitische Entschließung verabschiedet, in der die 30-Stunden-Woche als weitere arbeitszeitpolitische Perspektive genannt wird. Wir haben den Auftrag, in Gewerkschaft und Öffentlichkeit, in den nächsten drei Jahren eine Debatte darüber zu organisieren. Natürlich haben wir viele andere drängende tarifpolitische Fragen anzugehen, wie eine gerechtere Eingruppierungsstruktur.

Die IG Metall riskiert einen Konflikt in einer historischen Phase, in der die Öffentlichkeit weitgehend desinteressiert bis ablehnend der Arbeitszeitverkürzung gegenübersteht. Dabei ist sie doch wegen des veränderten Paragraphen 116 AFG mehr denn je auf die Unterstützung durch die Öffentlichkeit angewiesen.

In der Arbeitszeitfrage ist die öffentliche Meinung zwiespältig. Auf der einen Seite scheint vordergründig die Zustimmung zu fehlen, hat sich das öffentliche Interesse fast ausschließlich dem Thema DDR und Osteuropa zugewandt. Auf der anderen Seite wird geradezu mit einer Selbstverständlichkeit mit der Verwirklichung der 35-Stunden -Woche gerechnet, so als bedürfe es hierfür überhaupt keiner Kraftanstrengung mehr. Natürlich versuchen die Metallarbeitgeber diese Stimmung zu schüren, indem sie nicht wie 1984 eine aggressive Tabu-Position aufbauen, sondern sagen, sie seien ja im Prinzip nicht gegen Arbeitszeitverkürzung, nur nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Das macht die Situation schwieriger. Und der geänderte Paragraph 116 macht uns auch schwer zu schaffen. Aber ich gehe davon aus, daß wir mit einer gründlichen betrieblichen Vorbereitung, mit einer Mobilisierung der gewerkschaftlichen Solidarität schon während der Verhandlungsphase und, wenn es dann zu Streik und Aussperrung kommen sollte, auch mit einem Netzwerk gesellschaftlicher Solidarität den Arbeitgebern nach wie vor Widerstand leisten und vernünftige Kompromisse erzwingen können.

Wie schätzen Sie die Stimmung in den Betrieben ein?

Natürlich besteht ein großes und verständliches Interesse an deutlichen Einkommensverbesserungen. Aber auch in den Betrieben stellt die 35-Stunden-Woche gleichsam eine Selbstverständlichkeit dar, über die man nicht lange zu diskutieren braucht. Deshalb steht die Diskussion um die Lohn- und Gehaltsfrage im Vordergrund. Das Forderungspaket hat sehr große Zustimmung gefunden, auch wegen der Verbindung von Einkommens- und Arbeitszeitforderung oder auch der Forderung nach Begrenzung des Leistungsdruckes.

Von den Betriebsräten werden noch massenhaft Überstunden genehmigt. Wie paßt das zur Forderung nach weiterer Arbeitszeitverkürzung?

Die Überstundenbegrenzung war ein wichtiges Diskussionsthema im Vorfeld dieser Tarifauseinandersetzungen. Es ist notwendig, die Überstunden schrittweise einzuschränken und Neueinstellungen zu verwirklichen. Diese Überzeugung haben auch die Gesamtbetriebsratsvorsitzenden in der Automobilindustrie in einem Gespräch, das vor kurzem stattfand, geteilt. Ich bin überzeugt, wir werden in den nächsten Wochen erleben, daß in einer großen Anzahl von Betrieben die Vertrauensleute und Betriebsräte Ernst machen mit der Forderung: Verringerung der Mehrarbeit zugunsten von Neueinstellungen.

Was, wenn die Arbeitgeber gleich am Anfang eine verlockende Lohnerhöhung anbieten?

Nach den jetzigen Aussagen der Arbeitgeber sind sie nach wie vor fixiert auf eine sogenannte produktivitätsorientierte Lohnpolitik, das heißt: ein Lohnerhöhungsspielraum von nicht mehr als drei Prozent. Wenn die Arbeitgeber bei dieser Linie bleiben, ist das alles andere als ein verlockendes Angebot.

Interview: Gabriele Sterkel