Vereitelte die Revolution die Palastrevolution?

■ Gestern im Untersuchungsausschuß im Roten Rathaus zu den Vorfällen am 7. und 8.Oktober in Ost-Berlin / Sind die brutalen Polizeiübergriffe Einzelversagen - oder das Resultat einer von SED-„Oppositionellen“ innerhalb der Partei angezettelten Verschwörung?

Die Ereignisse, um die es gestern - wie an jedem Mittwoch seit Anfang November - im grünen Saal des Ostberliner Roten Rathauses ging, liegen nun schon fast vier Monate zurück. Am 7. und 8.Oktober, zur Jubelfeier „DDR 40“, war es rund um die Gethsemanekirche am Prenzlauer Berg zu friedlichen Demonstrationen gekommen, die mit brutaler Gewalt von Stasi und Polizei aufgelöst wurden. Mehr als 1.000 Männer und Frauen hatte man damals verhaftet und in Polizeikasernen und -kellern mißhandelt und erniedrigt.

Einer Untersuchungskommission, eingesetzt von der Ostberliner Stadtverordnetenversammlung, geht es inzwischen nicht mehr ausschließlich darum, genau aufzuschlüsseln, wer wann wen geschlagen hat, und wer welche Befehle erteilte. Zuviel ist in den letzten Wochen vertuscht worden. Vielmehr wollen die rund vierzig Ausschußmitglieder - unter ihnen Abgeordnete, Schriftsteller, Ärzte, Juristen und Theologen, Vertreter aller Parteien und demokratischer Bewegungen - die geistigen und funktionalen Bedingungen im Apparat analysieren, die eine solche zügellose Gewaltanwendung der Stasi und Polizei gegen friedliche DemonstrantInnen erst möglich machten.

Wichtig war in diesem Zusammenhang die gestrige Anhörung hochrangiger Generäle des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit. Sie hatte noch dadurch an Bedeutung gewonnen, weil Ex-Stasi-Chef Erich Mielke bei seiner kürzlichen Befragung in der Untersuchungshaftanstalt aussagte, er habe an den betreffenden Tagen nur dazu angewiesen, „für Ruhe und Ordnung“ zu sorgen. Daraufhin hatte sich der Stasi-Apparat in Bewegung gesetzt und die Führung der Aktion übernommen.

Welche Erkenntnisse brachte nun die gestrige Anhörung? Zunächst altbekannte. Die ehemals Verantwortlichen der Stasi reden sich immer noch heraus, bekennen sich nicht zu ihrer Schuld. Mielke-Nachfolger Dr. Schwanitz, Leiter des sich in Auflösung befindenden Amtes für nationale Sicherheit und seinerzeit Einsatzleiter in Berlin, bestätigte zwar, daß er am 7. und 8. Oktober von Mielke unter Druck gesetzt wurde, schärfer gegen die DemonstrantInnen vorzugehen. Er habe aber alles unternommen, um diese Anweisung zu „relativieren“. Allerdings waren ihm die Hände gebunden, da er über keine ausreichenden Informationen über die aktuelle Lage verfügte. Erst Tage später, so Dr. Schwanitz, erfuhr er von den Ausschreitungen.

Einigkeit zwischen ihm und dem ehemaligen Stellvertreter des Ministers, Mittag, herrschte in der Einschätzung Mielkes. Dieser sei sehr vital, aber auch cholerisch gewesen und hätte im Verein mit Honecker eine echte Bedrohung des Landes dargestellt. Allerdings haben sie damals im Oktober keine Möglichkeiten gesehen, diesem Zustand ein Ende zu setzen, sie hofften auf eine Veränderung.

Also immer dasselbe - das Triumvirat Honecker, Mielke und Mittag sind an allem schuld. Selbst die Ausschreitungen am 7. und 8.Oktober, für die diese Offiziere als verantwortliche Leiter haftbar gemacht werden könnten, werden übereinstimmend auf „Entgleisungen“ einzelner Beamter zurückgeführt, die der psychischen Streßsituation nicht gewachsen waren. Eine Betrachtungsweise allerdings, die beim Untersuchungsausschuß auf große Empörung traf - und mit der sich die Kommission nicht zufrieden geben wird.

Nach der Befragung weiterer verantwortlicher Stasi- und Polizeioffiziere der Vergangenheit, der Anhörung von Mielke und den SED-Spitzenfunktionären Krenz, Schabowksi und Herger schälen sich immer deutlicher folgende Erkenntnisse heraus: Der alten Garde um Honecker ging es darum, mit allen Mitteln - einschließlich der nackten Gewalt - den morsch gewordenen Thron der Macht zu retten. Die Gegenströmung im SED -Politbüro um Krenz und Schabowksi und ihre „Sympathisanten“ setzten auf eine Zuspitzung der Lage um den 40. Jahrestag der DDR herum, um dann mit einer Palastrevolution als „Befreier“ vor das Volk zu treten. Aber beide Rechnungen gingen nicht auf, weil die DDR-Bevölkerung im Oktober selbst auf die Barrikaden ging und sogar der allmächtigen Stasi trotzte.

Der Untersuchungsausschuß will noch Honecker und - zum zweiten Mal - Mielke hören. Viel Neues wird das wahrscheinlich nicht mehr bringen, denn die Konsequenz aus allen Ermittlungen ist unbestritten: Der Machtapparat, den sich Stasi und die alte SED schufen, muß endlich restlos zerschlagen werden.

Peter Berger