„Ihnen graut vor nichts“

■ Jan Philip Reemtsma über das deutsche Unternehmertum 45 Jahre danach

„Sie sind wieder wer, und es graut ihnen vor nichts. Nicht einmal vor sich selbst.“ Jan Philip Reemtsmas Urteil über die deutsche Wirtschaft und die, die sie repräsentieren, könnte kaum vernichtender ausfallen. Er spricht derart kategorisch über eine Zunft, der er selber entstammt.

Sein Urteil über diese Herren, denen es nicht mal mehr vor sich selber graut, basiert auf Erfahrungen, die Reemtsma 1988 beim Briefverkehr mit den Pressestellen von Krupp, Salzgitter AG, Dresdener Bank und etlichen anderen Firmen sammelte. Im Rahmen eines Vortrages an der Universität Bremen stellte Reemtsma letztes Wochenende die Ergebnisse dieses Briefwechsels vor.

Im Jahr 1988 plant der Hamburger Senat einen Ausbau der Gedenkstätte des Konzentra

tionslagers Neuengamme, einem Arbeits-und Vernichtungslager der Nazis mit etwa 40 Außenstellen, von denen sich sechs auch in Bremen finden. Reemtsmas sozialwissenschaftliches Institut, das mit einem Gutachten über den Ausbau der Gedenkstätte beauftragt wurde, kommt zu dem Ergebnis, daß an der Finanzierung des Ausbaus auch jene beteiligt werden sollten, die mit der Geschichte von Neuengamme eng

verbunden sind. Gemeint sind damit dreißig Firmen, die bis 1945 in diesem Lager Zwangsarbeiter für sich arbeiten ließen, Banken, die für den Aufbau von Neugamme sorgten, Chemieunternehmen, die das Zyklon B zur Vernichtung der Häftlinge lieferten.

Mit einer Spende für die Gedenkstätte könnten diese Firmen ihr soziales Erinnern dokumentieren, könnten zeigen, daß die Toten ihnen näher sind als die Täter. Die Adressaten, an die sich Reemtsma im Herbst 1988 mit der Bitte um eine Spende wandte, lesen sich wie ein who is who der deutschen Wirtschaft: MAN, Blohm und Voss, Deutsche Shell AG, Volkswagen, Rheinmetall und viele andere waren es, die in Neuengamme mittels Zwangsarbeit unter SS-Aufsicht Gewinne erwirtschafteten. Die wohlformulierten Stellungnahmen, die Reemtsma wenig später aus den Presseabteilungen dieser Unternehmen erhält, sprechen eine Sprache, die für Reemtsma „ihre Mördergrube auf der Zunge trägt“. 28 von 30 Firmen erteilen höflich aber bestimmt eine Absage, verweisen als Begründung auf die schwierige Konjunkturlage ihrer Branche, die eine Spende zur Zeit leider nicht zulie

ßen, erinnern an „Wiedergut machungszahlungen“, die sie bereits in den Fünfziger Jahren geleistet haben, oder bestreiten schlicht, mit der genannten Firma identisch zu sein. Andere Unternehmen, wie die heute noch unter dem bezeichnenden Namen existente „Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung“, die seinerzeit das Giftgas lieferten, reagieren überhaupt nicht. Wieder andere Firmen halten die Finanzierung der Gedenkstätte für eine „Aufgabe der Allgemeinheit“.

„Ich bin hereingefallen“, zieht Reemtsma die ernüchternde Bilanz seiner Spendenbriefaktion. „Ich wollte Zivilisation spielen, doch sie haben nicht mitgespielt“. Die rund dreißig Antwortschreiben werfen bezeichnende Schlaglichter auf die kollektive Verfassung dieses Landes, glaubt Reemtsma. Als Zeitdokumente, an denen das „Verfallsdatum von Sonntagsreden“ deutlich wird, hat er sie im Rahmen einer Ausstellung der breiteren Öffentlichkeit vorgestellt. Die Briefe, in denen von „viel Verständnis für Ihr Anliegen“ und von „außerordentlichem Bedauern“ die Rede ist, waren in Bremen bereits zu sehen und werden derzeit im ehemaligen Konzentrationslager Dachau gezeigt.

Martin Jahrfeld