Gebührenerhöhung statt Lohnsteigerungen

Die Argentinier fühlen sich von der peronistischen Regierung betrogen: Statt der versprochenen „produktiven Revolution“ nimmt die Armut weiter zu / Neun Millionen leben unter dem Existenzminimum, Hunderttausende wohnen in dürftigen Notunterkünften auf besetztem Land  ■  Aus Buenos Aires Gaby Weber

Ein neues Sparpaket für Argentinien - und Präsident Menem verliert einmal mehr an Glaubwürdigkeit: Statt die Gebühren für Telefon, Strom und Gas wie versprochen zu senken, hob sie die Regierung in der vergangenen Woche bis zu 125 Prozent an. Der IWF, so die Entschuldigung, habe von dieser Maßnahme die zweite Rate des Stand-by-Kredits abhängig gemacht. Ihm seien auch die Einführung der Mehrwertsteuer, die Schließung der staatlichen Bausparkasse und der Kreditbank für die Unternehmer zu verdanken.

Mercedes Martinez betrifft das neue Sparpaket wenig. Wo sie lebt, zahlt niemand Strom oder Telefon, bekommt weder Kredite noch die Aussicht auf eine Sozialwohnung. Mercedes wohnt mit fünf Kindern in der Arbeitersiedlung „20.Juni“, einem Vorort von Buenos Aires. Ihre Bretterbude hat einen festen Fußboden, aber keine Fenster; geschlafen wird in zwei Betten in einem großen Raum. Wie Familie Martinez haben Hunderttausende oder Millionen - genau weiß das niemand privates und öffentliches Gelände besetzt und darauf ihre Notunterkünfte gebaut. Es sind keine Slums, sondern Häuschen aus Wellblech, Brettern und Ziegeln mit kleinem Gärtchen. Wenn es regnet, steht alles unter Wasser, und es zieht durch die Ritzen. Da Stromleitungen in besetzte Siedlungen nicht verlegt werden, zapft man für die Glühlampe das Kabels an.

„Im Vergleich zu vielen anderen sind wir privilegiert“, sagt Mercedes, „mein Mann hat Arbeit als Mechaniker in der Textilfabrik.“ Aufgrund der Rezession ist 1989 die industrielle Produktion um 7,7 Prozent zurückgegangen. Ihr Ehemann verdient 70 Pfennig die Stunde, im Monat 140 DM. Für eine Miete müßte er mindestens 80 DM ausgeben. Ein Liter Milch kostet 50 Pfennig, ein Kilo Brot eine Mark. Nur der Wein ist billig, der Liter schon für 35 Pfennig zu haben. Die älteren Kinder bekommen in der Schule ein Mittagessen, sie dürfen auch die Geschwister mitbringen. Bis vor kurzem konnten dort auch ihre arbeitslosen Eltern essen, aber seitdem es immer mehr Kinder wurden, müssen die Erwachsenen draußen bleiben. „Wenigstens die Kinder werden satt“, so Mercedes, „nur krank werden dürfen sie nicht.“ In staatlichen Krankenhäusern fehlen Medikamente, und viele Ärzte werden seit Monaten nicht mehr bezahlt.

Nach offiziellen Angaben leben von 32 Millionen Argentiniern neun Millionen unterhalb des Existenzminimums, allein in Buenos Aires über drei Millionen. Und die Tendenz ist steigend. Die peronistische Regierung Menem setzte das Hilfsprogramm der Alfonsin-Regierung aus, statt wöchentlicher Freßpakete werden „Solidaritätsgutscheine“ im Wert von 18DM verteilt.

Doch nur 70 Prozent der Gutscheine - so der Gesundheitsminister - erreicht die Armen, der Rest versackt in der Bürokratie. Als Ende Januar die Gewerkschaft überraschend 60.000 Gutscheine ausgab, bildeten sich kilometerlange Schlangen - die meisten gingen leer aus. Ab dem 10.Februar, beruhigte der Minister, soll eine weitere Million verteilt werden. Mercedes und ihren Nachbarn wurden die Gutscheine vom Amt verweigert: In ihrem Ausweis sei nicht ihr derzeitiger Wohnsitz eingetragen. Jeder Behördengang erfordert Schlangestehen und Verwaltungsgebühren, die Strafe für unterlassene Anmeldung beträgt 20 Mark. „Und selbst wenn du sagst, daß du auf besetztem Gelände wohnst, gibt es plötzlich keine Gutscheine mehr - der sicherste Weg geht über den peronistischen Parteifunktionär.“

Mercedes hat links gewählt, aber ihre Nachbarn haben alle für Menem gestimmt. Heute fühlen sie sich von den peronistischen Wahlversprechen betrogen. Statt sich für die Entrechteten einzusetzen, ging Menem ein Bündnis mit den Neoliberalen ein, statt der versprochenen „produktiven Revolution“ kam die Rezession, statt „Lohnerhöhung“ die Gebührenerhöhung.

Aus dem Prestigeverlust Menems schlägt nicht nur die Linke politisches Kapital. Auch die Militärs rasseln wieder mit den Säbeln. Sie machen mit der drohenden sozialen Explosion Politik. Eine bewaffnete „Brigade Che Guevara“ verschenke in den Vororten Lebensmittel, so heißt es in einem Geheimdienst -Bericht für den Präsidenten, und ein Zug, der Mehl transportierte, sei gewaltsam angehalten und ausgeraubt worden. Schon werden Soldaten auf ihren Einsatz gegen Plünderer vorbereitet.

Auch die „Carapintadas“, die aufständischen Offiziere, befinden sich im Feldzug, sie diskutieren mit Waffenbrüdern und Unternehmern und klopfen streikenden Arbeitern demonstrativ auf die Schultern. Sie haben vor allem bei der Mittelklasse Bewunderer, denen es derzeit wirtschaftlich an den Kragen geht. Dort wurde verstärkt der Ruf nach einer „harten Hand“ laut, als um die Jahreswende die Regierung alle festangelegten Gelder einfror und in Bundesschatzbriefe umwandelte.

Mercedes interessiert das „Gejammer der Kleinbürger“ nicht. Sie habe keine Ersparnisse zu verlieren und noch nie einen Schatzbrief zu Gesicht bekommen. Ob sie mit einer sozialen Explosion rechne? „Noch nicht“, glaubt sie, „denn dank der Armenspeisungen verhungern die Leute nicht. Kritisch wird es erst im Juli oder August, wenn es kalt wird.“