Noch auf „Klassen„fahrt

■ Die bundesdeutsche Linke und der Sozialismus

Unter dem Titel „Fernaufklärung - Glasnost und die bundesdeutsche Linke“ befaßte sich ein Spektrum von DKP-, SPD-nahen bis grün-sozialistisch-unabhängigen Autoren mit möglichen Konsequenzen der Perestroika für den Sozialismus -Begriff in der BRD. Mittlerweile ist der „Vulkan Osteuropa“ (Max Diamant, 1956) mit unvorhergesehener Wucht ausgebrochen. Direkt Sozialismusbetroffene haben sich in einer Weise geäußert und verhalten, die nahelegt, daß es ihnen bei der mit Gorbatschow angeregten Umwälzung nicht mehr um eine konstruktive Weiterentwicklung, sondern eher um einen Bruch geht.

Vorherrschend in den Beiträgen ist das Bemühen um Aussöhnung mit diesem Gorbatschowschen Sozialismus, von Entartung und Perversion befreit, so daß der Begriff des Sozialismus zu retten sei, angereichert um die Komponente „Individualität“. Sozusagen: Stalin ist tot, es lebe Lenin, es lebe Marx.

Bei Frank Deppe leitet sich die aktuelle Entwicklung wieder konsequent aus der Dialektik der Widersprüche im Sozialismus ab, stellt einmal mehr eine höhere Ebene dar, womit der Ableitungszusammenhang - gottseidank - wieder anwendbar ist. Das Verhältnis zu dem Mann, dessen Name für Perestroika steht, ist oftmals merkwürdig sakrosankt - urbi et gorbi; immerhin ein Führer, der eine solche Ansammlung von Parteifunktionen auf sich vereinigt, wie es in der Sowjetunion zuletzt nur Stalin möglich war.

Mit Sacharow hatte noch ein heftiger Schlagabtausch über das Heldentum sowjetischer Afghanistan-Kämpfer stattgefunden. Solches bleibt in den Texten ausgespart. Dagegen ist sehr viel von aufbrechenden Feindbildern und überflüssig gewordenen Frontstellungen innerhalb der Linken die Rede. Äußerst verhalten bis gar nicht vorhanden ist eine Selbstkritik über die bisherige Position zu den Dissidenten. Innerhalb der westdeutschen Linken war ja in besonders penetranter Ausprägung die Opposition in der UdSSR wie in den anderen osteuropäischen Ländern mit Unbehagen bis hin zur Denunziation begleitet worden.

Auch die Reduzierung kommunistisch-dekadenter Macht- und Parteistrukturen - übrigens könnten das auch andere sein als die kommunistischen - auf die Entwicklung im „Real„sozialismus ist fragwürdig; ignorant zum Beispiel gegenüber Jorge Sempruns Kritik an den KPn in Spanien und Frankreich. Auch die eurokommunistische Variante bzw. außenpolitische Unabhängigkeit von der SU ließ die Attribute der marxistisch-leninistischen Wahrheitsgebäude und einer entsprechenden Kaderisierung nicht verschwinden.

Noch immer

geht es um Macht

Bei Thomas Meyer wird „demokratische Streitkultur“ mit „gemeinsamen Prinzipien“ jetzt möglich. Na denn. Sind nicht die Dogmatiker, Stamokaps oder ähnlich Benannten von gestern die „Reformer“ von heute? Die schnellen schlauen Zeiterkenner? Noch immer geht es um Macht - auch in den Strukturen der Gegenmacht.

Steffen Lehndorff stellt fest, daß der „gewerkschaftliche Bereich (...) heute in weiten Teilen der DKP zu den stabilsten Aktivposten der Erneuerung gehört“. Mag sein. Umgekehrt nicht. Namentlich bezieht er sich auf die IG Druck und Papier (inzwischen IG Medien), deren hartnäckig orthodoxe Führungen und Positionen im Gewerkschaftsspektrum nicht unbekannt sind - und auf die IG Metall, die eben unter diesen „Aktivposten“ leidet. Hier gibt es jedoch keinen „Basis„druck, sondern diese Organisationen verkraften bislang mühelos die Abstimmung mit den Füßen: Wegbleiben oder Austreten.

Wenn schließlich Wolfgang Fritz Haug weiß, „daß der Kurs in Richtung von mehr Sozialismus im Sinne von mehr Demokratie“ geht, so ist das als Wunsch verständlich, als Realität fraglich. Noch nie war auch die Begrifflichkeit vom Sozialismus derart infrage gestellt wie heute. Wie nett diese Linke mit sich selbst ist, wird deutlich, wenn ausgerechnet Hermlin für seinen Vergleich Perestroika 1987 mit Oktober 1917 zitiert wird und W.F.Haug emphatisch schreibt: „1917 sendet wieder.“ Sicherlich. Aber was? Auch Lenin wollte den Sozialismus nötigenfalls mit den Stiefeln verbreiten. Der Aufstand von Kronstadt fällt in diese Ära. Immer noch auf „Klassen„fahrt befindet sich Peter von Oertzen mit der Hoffnung, „daß öffentliches Eigentum an den Produktionsmitteln, daß ein hoher Grad von gesellschaftlicher Gleichheit, daß Selbstverwaltung der Arbeiterklasse in entscheidenden Punkten, daß ein gewisses Maß von politisch und sozial verantworteter Planwirtschaft mit politischer Demokratie und persönlicher Freiheit vereinbar sind“. Andernfalls könne er sich vorstellen, daß „wir plötzlich sehen werden, daß die politische und ökonomische Struktur der Sowjetunion sich rechts von sozialistischen Positionen befindet“. Wie das mit dem Links und Rechts heutzutage ist... Staunen erregt die Sicherheit, mit der gesellschaftliche Planung und Kontrolle der Produktion ungebrochen als reale Möglichkeit und wünschenswerte Zielsetzung gesehen wird.

Was das Enthüllungsszenario über die Funktionsweise des demokratischen Zentralismus der DKP betrifft, so ist es zwar atemberaubend, aber dennoch unbefriedigend steckengeblieben im Versagen von Führern und des Führungsprinzips. Denn eigentlich neu ist dieser Bericht nicht, wenn man sich an die Aussagen der Dissidenten aus der alten KPD erinnert.

Quer zu den Politprofis diskutiert Chistiane Reymann die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus unter dem Gesichtspunkt „Wiederaneignung des Humanismus“ - und thematisiert die Unfähigkeit, „Ungleichheit des Einkommens, das sich auf Arbeit gründet, Ungleichheit als abweichendes Verhalten oder in Form nonkonformistischer Lebensentwürfe oder Anschauungen“ zu akzeptieren. Weite Teile der westdeutschen Linken bis hinein in die Reihen der Arbeiterbewegung mit ihrem nach wie vor kollektivistischen Kurs haben in dieser Hinsicht nur deshalb keine liquidierenden Hände, weil es ihnen nicht vergönnt war, an die Macht zu gelangen, was einen im Nachhinein zum Aufatmen veranlaßt. Unter Bezugnahme auf die Ab- und Ausgrenzungen der dreißiger Jahre und des Scheiterns einer dritten Position zwischen KPD und SPD spricht Ch. Reymann in Begriffen von „Scham“, „Trauer“ und „Schuld“, sich damit auch terminologisch dem taktisch-strategischen Politikbegriff entziehend. Klassenkampf als quasi militärische Maxime einer „Armee der Arbeit“ sieht sie nunmehr aufgehoben in einem „anderen Typ von Produzenten, eine, in der Tendenz, eigenverantwortlich arbeitende Persönlichkeit, die ihre Lebensumstände individuell gestaltet“. Das Selbstverständnis der Linken könne bereichert werden „von einer Bewegung der Unerschrockenen und Helden zu einer Bewegung von Menschen, die Angst haben, die erschrecken, die versagen können und aufeinander angewiesen sind(...) Und hoffentlich endgültig werden Linke von der deformierten Hoffnung Abschied nehmen, daß es möglich sei, Menschen zu ihrem Glück zu zwingen.“

Marx und Markt

Angelina Sörgel setzt sich mit Perestroika unter dem Gesichtspunkt der volkswirtschaftlichen Effizienz auseinander. „Markt als Mittel der Demokratisierung“ „nicht nur die Marxisten in der Bundesrepublik bringt das in einige Verlegenheit“. „Die Perestroika setzt Marktkräfte frei“, bleibt aber doch eine „Revolution von oben“. A.Sörgel plädiert auf diesem Hintergrund für eine Neuaufnahme der Debatte um Wirtschaftsdemokratie - schon unter Bezug auf Naphtali, jedoch über die ökonomische Dimension hinaus als ein das gesamte wirtschaftliche Leben einschließendes Modell. „Ohne Wirtschaftsdemokratie auch keine politische Demokratie“, sagt sie und plädiert für eine differenziertere Begrifflichkeit von „Markt“, „vermachtetem Markt“ oder „nach wie vor dem Wettbewerb unterliegenden Märkten“.

Die Devise „mehr Markt“ hält A. Sörgel nicht für eine Kapitulation vor der Marktwirtschaft, sondern für „den Versuch der Entfesselung von mehr Spontaneität und Kreativität an der Basis der ökonomischen Prozesse, ohne den Sozialismus an der Spitze sein zu lassen. Ob es gelingt?“ A.Sörgel berührt den neuralgischen Punkt: die Eigentumsfrage. Sie fragt nach den Möglichkeiten, Eigennutz, also persönliche Interessiertheit an der Produktion mit gesellschaftlichem Interesse zu verbinden. Eine Perspektive wird in Richtung weitgehender Mitentscheidungskompetenzen sowohl in bezug auf die stoffliche Seite der Produktion wie auch hinsichtlich der subjektiven Interessen der Produzenten gesehen. Sozialismus als Rahmenbedingung für die Organisierung demokratischer Entscheidungsstrukturen stellte demnach eine bereits vollendete Form dar, in der die praktische Annäherung an eine Wirtschaftsdemokratie die erforderliche ökonomische Effizienz versprechen könnte. Umgekehrt sieht A.Sörgel auch in der Form des Kapitalismus schon eine Menge Möglichkeiten - überspitzt formuliert -, Sozialismus unterzubringen. Damit ist die Ausnutzung sozialer Gestaltungsspielräume, Arbeitszeit, Umwelt usw. gemeint. Ein quasi transzendenter Kapitalismus, dessen Perspektiven in mehr Humanität und Sozialismus bestehen würden, „ohne also gleich von seiner Entmachtung auszugehen“.

Das sind offene Worte, Verstöße gegen eindeutige programmatische Festschreibungen linker Provenienz, die die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln und deren Vergesellschaftlichung zum Glaubenssatz avancieren ließen. Eine Desillusionierung, wie A. Sörgel sagt, sicherlich. Doch auch die wirtschaftsdemokratischen Forderungen waren schon im Betriebsrätegesetzentwurf nach 1945 enthalten und sind seitdem verschwunden.

Wie groß ist die Interessiertheit an den Bedingungen der Lohnarbeit wirklich, solange die Investitionen in die Freizeit als befriedigend empfunden werden? Die Wiederentdeckung der Forderung nach Wirtschaftsdemokratie ist verdienstvoll. Wahrscheinlich aber bietet der bundesrepublikanische Betriebsalltag, anknüpfend an eine preußisch-protestantische Arbeitsethik, immer noch Identifikationsmöglichkeiten in einem solchen Ausmaß an, daß praktisch auf diesem Sektor zunächst nicht mehr faßbar ist als die bekannte Montanmitbestimmung - und das ist wohl nicht gemeint.

Insgesamt stellt der letzten Herbst herausgekommene Band ein merkwürdiges Sammelsurium von Glauben und Irrglauben, Fakten, Meinungen und Wünschen dar, das in dieser Komposition weder einem Bedürfnis gerecht wird, die Sowjetunion anders als in Schlagzeilen zu begreifen, noch sich auf die bisherigen Diskussionen innerhalb der westdeutschen Linken und Denkanstöße auch außerhalb dieser Szene wirklich einläßt. Es gab und gibt schon Menschen in der BRD, deren Politikbegriff sich weniger auf Klassenkampf als auf Menschenrechtsgedanken begründet - vor Glasnost, wie Glasnost oder trotz Glasnost, das wird man noch sehen.

Esther Dischereit

Fernaufklärung, Glasnost und die bundesdeutsche Linke. Hrsg.: D.Albers, Frank Deppe und Michael Stamm, Kiepenheuer & Witsch, DM 18,80, 1989