Die sanfte Revolution in der Slowakei

■ Ein Interview mit Peter Tatar, dem Sprecher der Slowakischen Bürgerbewegung „Öffentlichkeit gegen Gewalt“

Lubica Kasang: In der BRD weiß man nur wenig über den Verlauf der „sanften Revolution“ in der Slowakei; beispielsweise ist kaum bekannt, daß das „Bürgerforum“ nur in der tschechischen Teilrepublik existiert und das slowakische Pendant „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ (VPN) heißt. Warum hat sich diese Bewegung in der Slowakei einen anderen Namen gegeben? Verbirgt sich dahinter eine andere Politik?

Peter Tatar: Die Entwicklung in Böhmen und in der Slowakei verlief in demselben totalitären Staat; dieser Totalitarismus lastete auf beiden Völkern gleich schwer. Die offene politische Opposition in Prag war auch im Ausland bekannt, in Bratislava (Hauptstadt der Slowakei) dagegen wurde eine vergleichbare politische Opposition wie die Charta 77 nur durch wenige Menschen repräsentiert.

Das slowakische Modell entstand eher in katholischen Kreisen, die zum erstenmal bei der Demonstration am 25. März 1988 in Bratislava aktiv wurden, und besonders die Gruppe der Naturschützer, die im Rahmen des offiziellen formalen Naturschutzverbandes ihre Chance ergriff und nicht nur kompromißlos die Lage der Umweltverschmutzung kritisierte, sondern auch andere Probleme der Gesellschaft thematisierte; es war aber kein rein politischer Zugang, sondern eher ein Bürger-Engagement.

Die Studenten sind in beiden Teilrepubliken unabhängig voneinander politisch aktiv geworden. Schon am 16.November 1989 veranstalteten sie in Bratislava eine Demonstration für eine Schul- und Studienreform und forderten sogar, für die damalige Zeit unerhört, einen unabhängigen Studentenverband. Als es dann am 17.November in Prag losging, war der Boden überall vorbereitet. So wie in Prag das Zentrum des Geschehens die Theaterakademie DAMU wurde, ist in Bratislava die Hochschule der Musischen Künste das Zentrum der aktivsten Menschen geworden. Schauspieler und Studenten standen an der Spitze der Streiks; Künstler und Schriftsteller gehörten zu den ersten Aktivisten. Am 20.November wurde dann bei einer Versammlung im Theater „Kleine Szene“ der Name „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ angenommen, der die Philosophie und Taktik der ganzen Bewegung ausdrückt. Informelle Autoritäten wurden der Schauspieler Milan Knazko und der Umweltschützer Jan Budaj. Die Umweltschützer schlossen sich sofort an, sie wandten sich an alle ihre Grundorganisationen, und damit war augenblicklich die ganze Slowakei durch deren schon existierende Strukturen einbezogen.

Was ist das Besondere an der slowakischen Bewegung?

Die VPN in Bratislava ist kleiner als das Bürgerforum in Prag. Ihre Position ist eher die des engagierten Bürgers. Riesige Demonstrationen, die den Platz des Slowakischen Nationalaufstandes tagtäglich fast platzen ließen, wurden von der VPN nicht nur aus rein politischen Gründen durchgeführt, sondern um eine Art Kulturschock herbeizuführen. Eine Revolution gegen die Angst, eine Psychotherapie des Volkes. Das Ganze wurde „Entzauberung“ genannt. Alle gesellschaftlichen Tabus wurden entzaubert: Die Menschen sollten ihre Angst beim Aussprechen des Wortes „Charta 77“ verlieren und über die Okkupation des Landes durch die sowjetischen Truppen im August 1968 frei diskutieren lernen. Es ging so weit, daß bei einer der größten Demonstrationen Angehörige der Erschossenen vom August 1968 aufgetreten sind, um den sowjetischen Soldaten öffentlich zu verzeihen. So haben wir sogar Gorbatschow überholt. Diese eher psychologische Orientierung ist einer der Unterschiede zum tschechischen Bürgerforum.

Ein weiterer Beitrag der slowakischen sanften Revolution war die Überwindung des Isolationismus. Es war J. Budaj, der in Havels Anwesenheit während einer Fernsehübertragung vom Nationaltheater aus den Innenminister aufgefordert hat, den Studenten in Bratislava zu ermöglichen, die Burg Devin (sie liegt direkt an der österreichischen Grenze, Anm. d.Red.) von der anderen Donauseite aus zu betrachten. Und tatsächlich: Visafreies Reisen wurde sofort möglich; es kam zur großartigen Feier des Beitritts der Tschechoslowakei zu Europa, ein Festival der Verständigung, an dem ungefähr 200.000 Menschen aus der CSSR und Österreich teilgenommen haben.

Auf der politischen Ebene haben wir entschieden dazu beigetragen, daß der Artikel 4 über die führende Rolle der KP sofort abgeschafft wurde. Auch die Entlassung von Ministerpräsident Adamec und die Nominierung von Komarek (Wirtschaftsexperte und ehemaliger Leiter des Prognose -Institutes in Prag) zum stellvertretenden Ministerpräsidenten waren Beiträge von VPN. Ein großes Problem war die drohende nationale Spaltung bei der Kandidatur Havels zum Präsidenten. Der Standpunkt der VPN war, daß beide Kandidaten, Dubcek wie Havel, bei der Bevölkerung soviel moralische Autorität genießen, daß sie zusammenkommen und sich untereinander verständigen müßten. So kam es dann auch.

Wird sich Ihre Bewegung zu einer politischen Partei entwickeln?

Zur Zeit halten wir an den Positionen einer sozialen Bewegung fest. Wir sehen uns realistisch, als eine politische Kraft, aber nicht als politische Partei. Unsere Ortsgruppen sollten nach Möglichkeit nicht mehr als ein Drittel Mitglieder haben, die in anderen Parteiorganisationen sind. Wir sind offen für alle, da wir bei der Lösung der öffentlichen Probleme ein Modell der Bürgerbeteiligung vertreten...

...also ist es eigentlich das Modell der Bürgerinitiativen...

Ja, bis auf die Tatsache, daß einige Gruppen dauerhaft arbeiten werden, weil im gesellschaftlichen Prozeß ständig neue Probleme entstehen und die VPN insbesondere in drei Bereichen das Recht auf öffentliche Kontrolle der Macht beansprucht: Schutz der Demokratie, Schutz der Menschen- und Bürgerrechte und der Individualität und Schutz der Lebensqualität, wozu die Umwelt, soziale Probleme usw. gehören.

Auch wenn Sie eine Bewegung bleiben, müssen Sie sicherlich eigene Positionen zu schon existierenden oder neu entstehenden Parteien beziehen, besonders vor den freien Wahlen, die im Juni stattfinden sollen. Werden Sie eine Partei unterstützen?

Die VPN hat viele Anhänger in der Slowakei. Für die Wahlen wollen wir eigene Kandidaten nominieren oder aber Kandidaten anderer Parteien unterstützen und sie so moralisch legitimieren. Beide Möglichkeiten halten wir uns offen. Durch unsere Offenheit und unser Bürger-Engagement bilden wir eine Art demokratische Koalition.

Hat die Revolution in der Tschechoslowakei schon definitiv gesiegt und welche Probleme sehen Sie für die Zeit bis zu den Wahlen?

Das Regime wurde verändert, zentrale Repräsentationsorgane wurden rekonstruiert, trotzdem sind manche Positionen im Apparat nach wie vor von den alten Figuren besetzt. Das gilt besonders auf den unteren Ebenen der Staatsmacht und für die Betriebsleitungen. Zur Zeit wird gerade diskutiert, wie man die Streichung der führenden Rolle der KP in der Wirtschaftspraxis umsetzen soll. Also die Revolution erobert momentan die unteren Etagen des Staats- und Wirtschaftsapparates.

Interview: Lubica Kasang