Der Autoritätsverfall nimmt zu

■ Zu den Demonstrationen in Rumänien

Am Sonntag ist es in Bukarest zu gewalttätigen Auseinandersetzungen vor dem Regierungssitz gekommen. Eine aufgebrachte Menschenmenge hat gegen die seit dem Tod Ceausescus amtierende „Front der nationalen Rettung“ demonstriert. Der Rücktritt von Präsident Ion Iliescu wurde gefordert. Die „Front“ ist seit Januar immer wieder Gegenstand der Kritik gewesen. Weite Teile der Bevölkerung vermuten in ihr eine Nachfolgeorganisation der Kommunistischen Partei, von der seit den Tagen des Aufstands nichts mehr zu hören ist. Tatsächlich befinden sich in der Führungsspitze der Front, an sichtbarer Stelle, mehrere prominente Mitglieder der KP, die allerdings Kritiker des Ceausescu-Regimes gewesen sind und an den Dezember-Vorgängen entscheidend beteiligt waren. In der Bevölkerung herrscht die Meinung vor, die Revolution sei von den Reformkommunisten konfisziert worden. Iliescu selber hatte im Januar von einer neuen rumänischen Demokratie gesprochen und gleichzeitig das Mehrparteiensystem als überholt bezeichnet. Entgegen der ursprünglichen Selbstdarstellung als Konkursverwalter erklärte sich die Front zur Partei und kündigte ihre Beteiligung an den von ihr für Mai festgesetzten Wahlen an.

Unter dem Druck der Demonstrationen ist Mitte Februar zwar ein „Rat der Nationalen Einheit“ als oberstes Kontrollgremium gegründet worden, aber auch sein Präsident heißt Iliescu, und die Mehrheit der Sitze in diesem Rat stellt die Front. Diese zeigte seit dem Januar mehrfach Entscheidungsschwäche, Rücktritte komplettierten das ohnehin konfuse Erscheinungsbild.

Die wirtschaftliche Situation ist prekär, der Staatsapparat leidet an einem anhaltenden Autoritätsverlust. Die Armee befindet sich in einem konfliktreichen Erneuerungsprozeß, in dem die immer noch nicht aufgeklärten Ereignisse in Temeswar, die zum Sturz des Diktators geführt haben, eine wesentliche Rolle spielen.

Die Opposition, die sich erst nach dem Aufstand politisch und organisatorisch konstituiert hat, ist schwach und zersplittert. Die Medien sind weiterhin in der Hand der Front. Sie berichten einseitig. Die Bevölkerung ist nervös. Sie erwartet dringend einen endgültigen Abschied vom Sozialismus. Sie will sichtbare gesellschaftliche Veränderungen, ökonomische Verbesserungen. Die Bevölkerung will rasche Aufklärung über die Verbrechen der Securitate, der Geheimpolizei Ceausescus. Es herrscht Angst vor der Rückkehr der Securitate-Leute in den Machtapparat.

Bei dem Grad der Ungeduld und dem so gut wie nicht vorhandenen demokratischen Bewußtsein ist die Bereitschaft zur Gewalt von allen Seiten groß. Der Autoritätsverfall nimmt zu, er ist, wenn überhaupt, nur durch eine Gesamtkoalition aller politischen Kräfte im Land bis zu den Wahlen aufzuhalten.

Richard Wagner

R.W. ist rumäniendeutscher Schriftsteller und lebt in West -Berlin