Die Rüstungsindustrie wird modern

Die Zeit der Marktabschottung ist vorbei / Vor allem die Sparte Rüstungselektronik sorgt für die Internationalisierung der Branche / Weil die EG nicht zuständig ist, beschloß die Nato ihren eigenen westeuropäischen Binnenmarkt  ■  Von Michael Brzoska

Die Börsenberater sind sich nicht einig. Manche raten: „Verkaufen Sie Ihre Rüstungsaktien!“, denn die Verhandlungen über Abrüstung in Genf und Wien lassen für den Kurs solcher Werte nichts Gutes ahnen. Aber andere Börsianer empfehlen, nicht auszusteigen. Sie sehen Wachstumspotential bei den Firmen wie den Kursen.

Derselbe Widerspruch zeigt sich auch auf der Ebene der Firmen selbst. Einige kaufen sich Rüstungsimperien zusammen, andere trennen sich von der Rüstungsproduktion. In wenigen Branchen hat es in den letzten zwei Jahren so viele Veränderungen gegeben, und nirgendwo so viele wie in Westeuropa. Die Fusion von Daimler-Benz und MBB, der gemeinsame Aufkauf von Plessey durch Siemens und die britische General Electric Company (GEC) sind nur die - bei uns - bekanntesten Beispiele.

Welches sind die Rahmenbedingungen, was die Kalküle der beteiligten Akteure? Was sind die Folgen, vor allem friedenspolitisch? Drei Elemente setzen den Rahmen für die Neuordnung der Rüstungsproduktion. Sie lassen sich benennen als: Gorbatschow-Effekt, 1992 und Kostenexplosion.

Noch ist der Gorbatschow-Effekt kaum finanzwirksam geworden. Aber es ist kaum denkbar, daß Ost-West-Entspannung und Revolution in Osteuropa nicht zu einer Senkung der Beschaffungshaushalte führen werden. Planungen wie der Jäger 90 müssen geändert werden, die „natürliche“ Abfolge von „Generationen“ von Waffen wird es nicht mehr geben. Politisch wird immer weniger vermittelbar, warum angesichts drängender ökologischer und sozialer Probleme Geld für Panzer, Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge ausgegeben werden soll.

Dabei ist der Gorbatschow-Effekt nicht nur an den Beschaffungshaushalten ablesbar. Sein hoher Symbolwert schlägt sich zum Beispiel auch in Firmenimages nieder. Das Management von Daimler-Benz, nach der Übernahme von MBB durch das Stigma des „Rüstungskonzernes“ deutlich irritiert, schaltete Anfang 1990 eine internationale Anzeigenserie, in der die Entwicklung in Osteuropa einschließlich der Auflösung des Ost-West-Konfliktes überschwenglich begrüßt wurde.

Der holländische Elektronikgigant Philips verkaufte seine Rüstungsbeteiligungen unter anderem wegen der Imageprobleme einer „Rüstungsfirma“ auf dem Markt für Unterhaltungselektronik. Die Firma Thorn-Emi wurde in ihrem Entschluß, sich von der Rüstungsproduktionsabteilung zu trennen, dadurch bestärkt, daß Friedensgruppen regelmäßig im umsatzträchtigen Weihnachtsgeschäft öffentlichkeitswirksam auf die todbringenden Produkte des Elektronik- und Plattenkonzerns aufmerksam machten. Das zweite Stichwort, 1992, steht für die Schaffung eines einheitlichen westeuropäischen Binnenmarktes in der EG. Zwar ist nach Paragraph223 der Römischen Verträge, auf denen die EG beruht, die Rüstungsbeschaffung und -produktion nationale Angelegenheit. Doch faktisch hat der einheitliche Binnenmarkt erhebliche Auswirkungen auf die Rüstungsindustrie. Denn nur wenige Rüstungsproduzenten sind reine Waffenschmieden; meist werden zivile und militärische Güter unter einem Firmendach hergestellt. Unter solchen Umständen verändert der Binnenmarkt für zivile Güter auch die Rahmenbedingungen für die militärische Produktion.

Ab Ende 1992 wird einiges leichter für internationale Firmen, zum Beispiel die Installierung grenzüberschreitender Kapitalgesellschaften. Nicht zu verachten ist auch der „psychologische“ Effekt dieses Datums.

Explodierende Elektronik-Kosten

Die Kostenexplosion, das dritte Stichwort, ist der am wenigsten spektakuläre, aber vielleicht wichtigste Faktor. Die Kosten explodieren schon seit einigen Jahren vor allem im Bereich der Elektronik, der Datenerfassung und -verarbeitung. Modernste Waffensysteme wie Kampfflugzeuge und Kriegsschiffe sind heute flug- beziehungsweise schwimmtaugliche schießende Computer. Mehr als die Hälfte ihrer Kosten entfallen auf Elektronikkomponenten.

Der zunehmende Einbau von Elektronik im Kriegsgerät verändert das Profil der Rüstungsindustrie. Fahrzeugbau, Schiffbau, Geschützproduktion, selbst Flugzeugbau sind auf dem Rückzug, die elektrotechnische Industrie ist im Vormarsch. Außerdem, und das ist noch wichtiger, treibt die zunehmend komplizierter werdende Kombination von Elektronik, Fahr- und Schießzeug die Entwicklungskosten von Waffensystemen exponential in die Höhe. Exponential heißt, daß die Entwicklungskosten von einer Waffengeneration zur nächsten nicht nur stetig steigen wie noch in den sechziger und siebziger Jahren, sondern, wie im Fall des B-2-Bombers, verfünf- oder sogar versechsfachen.

Folgerichtig betrafen die meisten der jüngsten Veränderungen in der westeuropäischen Rüstungsindustrie den Elektroniksektor. Bis in die achtziger Jahre hinein hatten im Bereich der Rüstungselektronik relativ viele kleine Firmen erfolgreich ihre Marktnischen gehalten. Ende der achtziger Jahre wurde das erheblich schwieriger. Firmen wie Plessey oder Rüstungssparten wie die des angeschlagenen Ferranti-Konzerns aus Großbritannien wurden von anderen aufgekauft; Thorn-Emi aus Großbritannien und Philips aus den Niederlanden beschlossen von sich aus, ihre Rüstungsabteilungen zu verkaufen.

Dadurch beschleunigte sich der bis dahin recht langsame Konzentrationsprozeß in der Rüstungselektronik. Am stärksten blähte sich Thomson aus Frankreich auf, dessen Management nicht nur weite Teile des international verstreuten Philips -Rüstungsimperiums übernahm, sondern auch weitere Firmen in Großbritannien, Frankreich und den USA aufkaufte. Auch Siemens und GEC, schon vorher unter den größten Rüstungsherstellern Westeuropas, verstärkten ihre Aktivitäten in der Rüstungselektronik durch Zukäufe beträchtlich. In diesem Bereich ist Ende der achtziger Jahre ein Prozeß in Schwung gekommen, der in anderen Sektoren der Rüstungsindustrie schon weiter fortgeschritten war: die Konzentration auf einige wenige große Firmen.

Die Konzentration im Rüstungselektronik-Bereich unterscheidet sich fundamental von früheren Konzentrationsprozessen in der Rüstungsindustrie. Die waren im wesentlichen national erfolgt - Ziel war ein Konzern pro Land. Die Fusion Daimler-Benz/MBB war ein besonders eklatantes Beispiel für diese Art der Konzentration. In der Rüstungselektronikbranche hingegen erfolgt die Konzentration nun oft grenzüberschreitend. Siemens kaufte die Hälfte von Plessey, Großbritannien; Matra, Frankreich, einen Teil der Bodenseegerätetechnik (BGT) Friedrichshafen; Thomson aus Frankreich Firmen in einem halben Dutzend Länder. Der Rüstungselektronik-Sektor ist damit von einem - gemessen an der Struktur der Branche insgesamt - eher rückständigen zum modernsten geworden.

Das heißt nicht, daß es nicht noch Fusionen des alten Typs geben wird. In Frankreich produzieren mit Dassault und Aerospatiale noch zwei Flugzeughersteller; neben Thompson ist Matra im Elektronikbereich sehr aktiv; und der Panzerproduzent Giat wurde gerade privatisierbar gemacht. Noch stärker zersplittert ist die technologisch weniger fortgeschrittene Rüstungsindustie in Italien und Spanien. Aber den Konzentrationsbewegungen über die Grenzen hinaus dürfte die Zukunft gehören.

Ist diese Prognose richtig, bedeutet sie einen gravierenden Einschnitt in einem Bereich, der bisher durch eine enge jeweils nationale Verbindung zwischen Wirtschaft und Politik gekennzeichnet war. Ob man das nun mit dem Wort „Militär -Industrie-Komplex“ (MIK) bezeichnet oder als „Naturschutzpark Rüstungsindustrie“, Tatsache war, daß der jeweils nationalen Rüstungsindustrie die ausländische Konkurrenz vom Leibe gehalten wurde.

MIKs als

nationale Relikte

Noch sind die nationalen MIKs nicht abgeschafft. Aber sie sind - von zuständiger Seite - zu Relikten der Vergangenheit erklärt worden. Die Verteidigungsminister der westeuropäischen Nato-Mitgliedsstaaten beschlossen es Mitte Februar auf einer Sitzung der Unabhängigen Europäischen Planungsgruppe (IEPG) in Gleneagles in Schottland: Rüstungsobjekte sollen in Zukunft westeuropaweit ausgeschrieben werden, der westeuropäische Rüstungsmarkt ist dekretiert. Dieser Beschluß ist das vorläufige Ende einer langen Auseinandersetzung um verstärkte westeuropäische Zusammenarbeit im Rüstungsbereich, weil national verschiedene Panzer- oder Flugzeugtypen nicht nur die Kriegsführung erschweren, sondern auch wegen der geringeren Stückzahlen jedes einzelne Produkt teurer machen.

Erst ab Mitte der achtziger Jahre wurde die Internationalisierung der Rüstungsproduktion dynamisch, und zwar nicht durch politische Beschlüsse, sondern durch die Aktivitäten der Rüstungsfirmen selbst. Die waren inzwischen in den großen Ländern so groß geworden, daß sie an die Grenzen der nationalen merkantilistischen Schutzpolitik gestoßen waren. Noch in den siebziger Jahren hatte es der schnell wachsende Rüstungsmarkt in der Dritten Welt möglich gemacht, die Entscheidung aufzuschieben, aber in den achtziger Jahren schrumpfte mit der Verschuldungskrise diese Nachfrage. Nun sahen die großen Firmen ihre Vorteile zunehmend in weniger geschützten großen Märkten als in geschützten, aber schrumpfenden kleinen.

1985 wurde von der IEPG eine Studie über den zukünftigen westeuropäischen Rüstungsmarkt in Auftrag gegeben. Unter dem Vorsitz des niederländischen ehemaligen Verteidigungsministers und EG-Kommissars Henk Vredeling erarbeitete eine Gruppe von den westeuropäischen Rüstungsfirmen nahestehenden Experten ein Konzept der Öffnung der Märkte. Roter Faden des Vredelink-Berichts ist die industrielle Konkurrenz mit Japan und den USA.

Nur ein gemeinsames Vorgehen der Westeuropäer könne das Absinken in die Zweitrangigkeit verhindern, hieß es. Deshalb sollte so bald wie möglich ein nach innen offener, nach außen abgeschotteter westeuropäischer Rüstungsmarkt entstehen. Was danach von den Verteidigungsministern in der IEPG beschlossen wurde, folgt, mit einiger Verzögerung, dieser Rezeptur. Der Vredelink-Bericht kann deshalb auch als Grundlage für die Bewertung der Folgen der Westeuropäisierung der Rüstungsproduktion benutzt werden. Ein zentrales Element ist die Effektivierung der Produktion. Schon 1985 sahen die IEPG-Experten die westeuropäische Rüstungsindustrie als zu groß und in vielen Teilen unproduktiv an. Mit anderen Worten: Ein Gutteil der gegenwärtig weit über eine Million Beschäftigten in der westlichen Rüstungsindustrie muß entlassen werden. Damit entsteht erfahrungsgemäß ein nicht zu verachtendes politisches Potential gegen Abrüstung. Friedenspolitisch gewendet: Die Dringlichkeit erfolgversprechender Konversion, also der Umrüstung militärischer in zivile Produktion - oder hier genauer: Beschäftigung - ist größer, als es die Abrüstungsverhandlungen vorspiegeln.

Die niedrigeren Preise sollen laut Vredelink-Bericht und IEPG-Beschluß auch helfen, noch mehr Waffen in die Dritte Welt abzusetzen. Ob das möglich ist, ist angesichts der schwierigen ökonomischen Situation in der Masse der potentiellen Käuferländer abzuwarten. Aber einen anderen, vor allem für die Bundesrepublik wichtigen Effekt hat die Westeuropäisierung auf jeden Fall. Die nationalen Rüstungsexportkontrollen werden ausgehebelt.

Da die Firmen in Zukunft noch stärker als bisher westeuropäisch vernetzt sein werden, werden nationale Beschränkungen unpraktikabel, weil leicht umgehbar. Zwar ist von der einst restriktiven Rüstungsexportpolitik der Bundesrepublik nicht mehr viel übrig, aber einige Schranken, zum Beispiel die Lieferung von Großwaffen an Kriegsbeteiligte, gibt es noch. Werden durch Westeuropäisierung die Beschränkungen auf das kleinste Maß, etwa das französische, reduziert, gäbe es auch diese Schranke nicht mehr.

Noch ist nicht entschieden, ob die Börsianer und Firmenstrategen recht behalten werden, die davon ausgehen, das international vernetzte große Rüstungsfirmen gute Aussichten haben, trotz Auflösung des Ost-West-Konflikts weiter zu wachsen, oder die Berater, die von einer allgemeinen Krise der Rüstungsproduktion ausgehen. Entscheidend dürfte sein, wieviel politischer Druck auf weitgehende Abrüstung entfaltet werden kann.

Der Autor ist Mitarbeiter der Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung an der Uni Hamburg