Was kostet das Hüetli?

■ Sonntagsspaziergang durch eine geschlossene Abteilung

Gabriele Goettle

18. März 1990. Die Klimakatastrophe wartet verschwenderisch mit blauem Himmel und Wärme auf. Zuversichtlich schwellen Knospen, gurren Tauben, bewachen Rotarmisten das Russische Ehrenmal. Auf den Fahrbahnen rund um die Siegessäule glitzern Splitter vergangener Auffahrunfälle im Sonnenlicht. Darüber hinweg schieben sich Autoschlangen Richtung Brandenburger Tor, durchquert von berittener Polizei, die das Parkverbot verteidigen soll gegen Trabant und Mercedes.

Neben dem Reichstagsgebäude quellen zwei Dutzend ältere Herren in knitterarmer Freizeitkleidung aus einem sauerländischen Bus, bilden einen Halbkreis und schmettern mit trainierten Stimmen deutsches Liedgut hinauf zu den grauen Sandsteinquadern. Ein paar Meter entfernt davon sitzt eine vierköpfige türkische Familie und picknickt gemächlich auf dem Grünstreifen zwischen den parkenden Autos. Vorn am Kanal kreisen Möwen über den weißen Ausflugsdampfern, und drüben in der Charite wird vermutlich gerade das Mittagessen ausgegeben, nachdem die „fliegende Wahlurne“ auf allen Stationen ihre Stimmzettel eingesammelt hat.

Hinter dem Reichstag flanieren Touristen und Spaziergänger hinüber zum Brandenburger Tor und stauen sich vor den Klapptischen der zahlreichen Händler. Hier wird die Mauer verscherbelt in bunten Brocken und Splittern, aber auch kunstgewerblich veredelt durch allerhand Zutaten. Es gibt antifaschistischen Schutzwall als Ohrclip und Anhänger, in Acryl gegossen, im verglasten Holzkästchen vor einem Miniaturpanorama der Mauer, auf Brettchen befestigt und mit rostigem Stacheldraht umwunden.

Die besten Geschäfte aber machen momentan Händler, die sich auf den dekorativen Nachlaß der SED spezialisiert haben, auf Orden, Ehrenurkunden, Parteiabzeichen, Fahnen, Uniformteile, Parteiliteratur und Wandbilder der ehemaligen Politbüro -Mitglieder. Präsentation und Preisgestaltung sind noch etwas uneinheitlich, was am unerschöpflichen Vorrat liegen mag. Was hier auf samtenen Stoffen dargeboten wird, findet sich ein paar Schritte weiter in der Krabbelkiste. Es gibt all das, was einmal ein großer Moment im Leben junger Pioniere, fleißiger Arbeiter und diensteifriger Parteisekretäre war - oder werden sollte. Nun betasten unbefugte Sammler- und Touristenhände abschätzend das „Banner der Arbeit“ und den „Karl-Marx-Orden“. Ein Kunde fragt nach dem „Stern der Völkerfreundschaft, Stufe eins“, man hat aber momentan nur noch Stufe drei vorrätig. Reifere Damen und Herren haben sich den Einkauf ans Revers geheftet: Parteiabzeichen, vaterländische Verdienstorden in vier Stufen, Hans-Beimler-Medaillen, Scharnhorst-Orden und FDJ -Abzeichen. Derart Dekorierte treten ohne Scheu an die wachhabenden Grenzorgane heran - nicht einmal, um zu provozieren - sie holen Aufkünfte ein oder lassen sich neben ihnen fotografieren. Da sieht man manch bitteres Mienenspiel.

Minderjährige Knaben aus Ost-Berlin verkaufen ihr letztes Hemd aus der FDJ, ihre blauen Halstücher, Pionierausweise, Fähnchen, Abzeichen und Handbücher. Auch die leicht vergilbten Parteiabzeichen der Eltern und Großeltern sind im Angebot. Händedruck vor roter Fahne, glasiert auf ovalem Kupferblättchen; als Einsteckknopf für den Herrn, an der Nadel für die Dame. Sogar die Lehrer scheinen Ballast abgeworfen zu haben: Die echt silberne Pestalozzi-Medaille am blauen Bande ist für fünf Mark West zu haben.

Vor dem Brandenburger Tor steht mitten im Gedränge ein Leierkastenmann und wechselt die Walze. An seinem Kasten hängt ein handbeschriebenes Pappschild: „Mir könnse ooch mieten für sämtliche Jelejenheiten“. - Mit dem Ruf „Nur wo Stasi draufsteht ist auch Stasi drin!“ präsentiert ein Händler Orden, Schulterstücke und Mützen. Daneben auf einem Klapptisch rote Parteibücher zu horrenden Preisen. Benutzte, mit Paßbild, Namen, Stempeln und bezahlten Mitgliedsbeiträgen bis November '89 oder gar Januar '90, aber auch unbenutzte. Vorn, auf dem mit Lederimitat bezogenen Einband, steht über dem Parteiemblem in Goldprägung „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch“, innen sind ausreichend Seiten, um zwanzig Jahre lang Beitragszahlungen einzutragen und „Vermerke zur Änderung von Personalangaben durch leitende Parteiorgane“. Auf der letzten Seite wird der Genosse persönlich angesprochen: „Dein Mitgliedsbuch ist das wichtigste und wertvollste Dokument, das Du besitzt. Es ist sorgfältig zu behandeln, sicher aufzubewahren und vor Verlust zu schützen. Bei Verlust des Dokumentes ist die Leitung Deiner Grundorganisation sofort zu verständigen (...).“ Wer aber im Falle von Partei- und Staatsverlust sofort zu verständigen sei, wurde nicht bedacht.

Auf dem Nebentisch liegen kolorierte Honecker-Bilder in diversen Zierrahmen. Das Gesicht, bonbonrosa vor himmelblauem Hintergrund, verschiebt sich unter der braunen Hornbrille zu einem landesväterlichem Lächeln. Auch Tisch und Mittag sind im Angebot. Ebenso diverse Parteiliteratur, das Statut der SED von 1988. Dazwischen liegen dickglasierte Broschen mit rotem Winkel auf blau-weißen Streifen: 40. Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus. Die befreite Kundschaft ist von den Fettschwaden belästigt, ein Vietnamese läßt Frühlingsrollen ins brodelnde Öl gleiten. Ein Stück weiter kann durch den Kauf einer bayerischen Laugenbrezel für drei DM die Perestroika in der UdSSR unterstützt werden.

Vor dem Grenzübergang stehen lange Schlangen und warten auf Abfertigung. Von hier aus kann man an der Mauer entlang gehen bis vor zum ehemaligen Hotel Esplanade. Auf dieser Strecke wird gearbeitet. Notwendiges Werkzeug kann an diversen Klapptischen stundenweise gemietet werden, beim „Hammer & Meißel-Verleih“. Das männliche Geschlecht aller Altersgruppen hämmert mehr oder weniger geschickt auf die letzten noch farbig besprühten Betonreste ein. Durch die Mauer tönt ein dumpfes Dröhnen, setzt sich von Segment zu Segment fort, allmählich höher werdend und irgendwie in ein Schwirren übergehend. Das Ergebnis ist unübersehbar: Dicke Schichten sind abgetragen, überall ragen Montiereisen hervor, klaffen große Löcher und Spalten. Die Kinder schlüpfen hindurch und machen einen kleinen Spurt über den Todesstreifen. Eine schwere Betontür - vordem gefürchtet und kaum auszumachen in der Mauer - steht sperrangelweit offen. Hier stiegen hinterrücks GrePos durch die Grenze, um Personen festzunehmen, die sich widerrechtlich auf DDR -Gebiet begeben hatten.

Da, wo der Tiergarten aufhört und sich ein großflächiges Ödland hinüberzieht bis zum Esplanade, hat sich eine Dreiergruppe von bebrillten Mittdreißigern verteilt, um gemeinsam einen schwarz-rot-goldenen Drachen steigen zu lassen. An ihm befestigt ist eine lange Schnur, ebenfalls mit vielen Drachen bestückt, die soll - so jedenfalls das Vorhaben - in großem Bogen über die Mauer manövriert werden als Symbol der Vereinigung. Aber der Herr, der für den DDR -seitigen Schwanz zuständig ist, hat alles vermasselt, und so flattert es ungezügelt in westliche Höhen hinauf und wird immer kleiner.

Ein Wartburg und zwei Trabant behindern zusätzlich die Drachenmanipulation durch Anlocken von Kundschaft. Ein reichhaltiges Uniformensortiment ist im Angebot, sogar aus dem Fundus der Roten Armee. Auf den Kühlerhauben liegen Webpelzmützen von NVA und Stasi, Schulterstücke, Offiziersmützen mit polierten Emblemen, Ledergürtel mit schweren Messingschnallen, auf denen als Relief ein gewaltiger Stern prangt. Vor dem Trabant steht ein gutgekleideter älterer Schweizer, dreht prüfend Offiziersmützen in den Händen und fragt: „Was kostet das Hüetli?“ 25DM soll es kosten, wird mit sicherem Ton auf sächsisch geantwortet. Der Schweizer kauft es, dazu zwei grüne Webpelzmützen und eine komplette Uniform mit Gürtel. Er geht hochbeladen und zufrieden davon.

Ganz am Ende dieses Mauerstreifens, wo ein Grenzübergang für Autos hineingeschnitten wurde, ist der Sand aufgewühlt von den Bauarbeiten für die neue Straße. Ein dicker Rentner mit Stock lehnt direkt neben dem Mauerende über einem Absperrgitter. Von diesem Standort aus kann er zugleich auch das hinter der Mauer liegende Gelände überblicken, auf dem immer noch Grenzposten in Zweiergruppen patroullieren. Er fuchtelt wild mit seinem Stock in Richtung der Soldaten, erklärt uns: „Zücken Sie mal 'ne Waffe, dann könnense sehn, wie die das Laufen kriegen. Mann! Wie die Hasen rennen die vor Angst. Ham wa allet schon ausprobiert, mit Wasserpistole...nee, wie die Hasen...“

Gegen Abend strömen die Massen allmählich nach Hause, um dem Spektakel vor den heimischen Bildschirmen beizuwohnen. Die Schickeria hingegen strebt, edel ausstaffiert, über die Grenze, um an den diversen Wahlparties teilzunehmen.

Bereits die ersten Hochrechnungen zeigen, daß eine Mehrheit der DDR-Bürger das Kreuz über ihre Republik gemacht hat. In den Wahlstudios mißtraut man anfangs noch den eigenen Computerzahlen, dann aber kehrt Gewißheit ein. Schnelles Umschalten von Sender zu Sender läßt die gesamte Vielfalt deutsch-deutscher Raserei plastisch hervortreten. In Dresden werden Bürger interviewt. Eine Frau weiß kaum zu sagen, was schöner ist: „Daß die CDU nun die Wahl gewonnen hat oder daß der Heino aus der BRD gleich hier für uns singen wird.“

Und schon geht es los. Hunderttausende, unlängst noch „Helmut“ jubelnd, rufen nun „Heino, Heino“, und der, ganz in Weiß, singt „Blau, blau, blau blüht der Enzian“ und „Barbara“ und das ganze Repertoire, schwingt zackig die Hüfte, lächelt frostig. Auf dem Platz herrscht Bombenstimmung, solche Emphase ist dem Liebling aller Germanen nicht einmal in Deutsch-Südwest entgegengebrandet. Man hat das Gefühl, sämtliche Scheiben der umliegenden Häuser müßten zerbersten unter dieser Druckwelle.

Auf einem anderen Kanal schlurft Udo Lindenberg mit hängendem Hosenboden durchs schrille Farbenspiel und greint von der Bühne seine ranzigen Songs ins jugendliche Publikum. Wacker bemüht um Emotionen, gerät es allmählich in autistisches Schaukeln.

Dazwischen die Hochrechnungen:

Allianz: 48,1%

SPD: 21,8%

PDS: 16,3%

Liberale: 5,3%

Bündnis 90: 2,9%

Grüne und Frauen: 1,9%

Martin Walser sagt in der Talk-Show mit bramarbasierender Geschwätzigkeit viel von dem, was alle hören wollen, und: „Ich bin sehr froh, daß diese Wahl so gegangen ist!“

Walter Jens liest in einem anderen Programm hektisch billige Ratschläge für „die Freunde von der PDS“ vom Zettel ab: “...anlehnungsbedürftig, wie wir sind, gehen wir mit den stärkeren Bataillonen, aber genausowenig ist es richtig, sich jetzt in die feste Burg zurückzuziehen, das ist linkes Sektierertum, ist nicht die demokratische Art, jetzt muß man sich stellen und hier mit den anderen in offener Feldschlacht debattieren...“

Dazu passend im Jargon, bringt das DDR-Fernsehen dieses wunderbare kleine Interview mit Offizieren eines Fliegerhorstes der NVA:

„(...)

Interviewer: Was nun, wie soll es weitergehen?

Flieger: Mir geht's ja nicht in erster Linie um die Luftabwehr, sondern darum, daß ich meinen Beruf, das Fliegen, fortsetzen kann.

Interviewer: Wie lebt es sich denn nun, ganz ohne Feindbild?

Flieger: Das Feindbild wurde ja bereits nach der Wende abgebaut. Nun sind wir dabei, ein neues Wehrmotiv aufzubauen.

Interviewer: Was für ein Wehrmotiv?

Offizier: Nun, ein Wehrmotiv in dieser Art, daß wir die neuen Aufgaben erfüllen, mit hoher militärischer Meisterschaft..., und dafür sind wir da.

Interviewer: Herr Künzel, können Sie sich vorstellen mit der Bundeswehr in einem Bundesheer zu leben?

Künzel: Konkrete Angebote liegen uns nicht vor..., sich das vorzustellen fällt sehr schwer..., aber man soll heutzutage nie nie sagen.

Interviewer: Sie stehen ja nun vor einem Trümmerhaufen Ihrer alten Ideale, trifft das auch auf Sie zu? Sie waren ja mal ein führender Politoffizier?

Künzel: Trümmerhaufen...? Ich würde sagen..., die Gerippe meiner Ideale stehen nach wie vor!

(...)“