Gewerkschaften zur Einheit

„Deutsche Einigung - ohne und gegen die Gewerkschaften?“ Der scheidende DGB-Vorsitzende Ernst Breit über (F)DGB-Versäumnisse und (F)DGB-Zukunft  ■ D O K U M E N T A T I O N

Die Arbeitnehmerorganisationen waren an der revolutionären Veränderung der DDR und sind an dem rasanten deutschen Einigungsprozeß auffallend unbeteiligt. In der DDR wirkten die Werktätigen am Sturz des Stalinismus zwar entscheidend mit: als Republikflüchtlinge und als Feierabenddemonstranten, aber nie war der Kampf gegen das SED-Regime ein Arbeitskampf. Anders als in Polen entfaltete sich die DDR-Opposition ausschließlich politisch als Demokratiebewegung, nirgends sozial als Arbeiterbewegung. Die DDR-Gewerkschaft blieb bis zuletzt Teil des Stasi -Staates und wird dafür von der Opposition mit Verachtung gestraft. Diese Opposition hatte im DDR-Untergrund über Jahre hinweg, insbesondere in Form von Friedens- und Umweltschutzinitiativen gearbeitet. Selbstkritisch weisen bundesdeutsche Gewerkschafter heute darauf hin, daß der DGB diesen Initiativen nie Zusammenarbeit angeboten habe. Solche Selbstkritik ist ehrenhaft, aber sie ignoriert den schlichten Sachverhalt, daß der DGB auch in der BRD zu solchen Initiativen ein mehr als distanziertes Verhältnis hatte und zum Teil heute noch hat. Wie sollte er also auf die Idee kommen, in der DDR zu tun, was er in der BRD unterläßt.

Revolution ohne

Gewerkschaften

Für den Vorwurf, der DGB habe zu lange mit Harry Tisch an einem Tisch gesessen, lassen sich im nachhinein gute Argumente finden. Nur: ein anderes gewerkschaftliches Gegenüber gab es nicht, und gesamtdeutsche Tische waren ein rares Möbel. Hätte der DGB seinen Stuhl leer lassen dürfen? Bleibt als Faktum, daß diese Novemberrevolution bestenfalls ohne, schlimmstenfalls gegen die Gewerkschaften des Westens und des Ostens stattfand. Wird es auch ohne und gegen die Gewerkschaften weitergehen?

Der DGB liegt im Konflikt mit der Politik der amtierenden Bundesregierung, der FDGB lag in den Armen der gestürzten DDR-Regierung - keine gute Ausgangsbedingung für die Arbeitnehmerorganisationen, um im deutschen Einigungsprozeß zu Wort zu kommen, geschweige denn Gehör zu finden. Die große Frage, auf die es bislang nur kleine, leise Antworten gibt, lautet demnach: Was kann die Gewerkschaftsbewegung aus eigener Kraft? In der DDR ist die alte Gewerkschaft am Boden. Was an ihre Stelle treten soll, darüber herrscht, zumindest dem Arbeitstitel nach, flächendeckende Eintracht vom Rhein bis zur Oder/Neiße: eine freie und unabhängige Gewerkschaftsbewegung. Ihr Entstehungsprozeß allerdings wurde erstens durch die fatale Konstellation behindert, daß der DGB auf die Aktion der Arbeitnehmerschaft der DDR und diese auf das Tätigwerden des DGB und seiner Gewerkschaften wartete. Zum anderen wurde über die Alternative gestritten, ob freie Gewerkschaften in der DDR am Ende eines Reformprozesses des FDGB stehen oder nur auf dem Weg einer Neugründung gebildet werden könnten.

Inzwischen wächst die Erkenntnis, daß zum einen nicht beiderseitiges Abwarten, auch nicht einseitiges Vorpreschen, sondern nur gemeinsames Handeln weiterhilft; und daß es sich zum anderen nur um eine Scheinalternative handelt: Wo sich der FDGB und seine Einzelgewerkschaften reformfähig erweisen, muß kooperiert, wo nicht, muß die Neuorganisation betrieben werden. Es tauchen dabei mindestens zwei Risiken auf. Eines besteht darin, daß bei den DGB-Gewerkschaften die Bequemlichkeit siegen könnte, daß sie also dort, wo der organisatorische Zuschnitt der Industriegewerkschaft hüben und drüben weitgehend deckungsgleich ist, sich zu schnell für Kooperation und dort, wo die branchenmäßigen Schnittstellen überhaupt nicht übereinstimmen, sich voreilig für Neuorganisation entscheiden. Das zweite Risiko ist folgenschwerer. Das Nebeneinander von Kooperationen und Neugründungen könnte die ohnehin von interessierter Seite forcierte Tendenz zur Zersplitterung der DDR -Gewerkschaftsbewegung begünstigen. Einheit ist in der DDR ein diskreditierter Begriff. Der vergangene Zwang zur Einheit provoziert den Drang zur künftigen Vielfalt: Es wäre das Ende starker Gewerkschaften auch in der Bundesrepublik, wenn sich die Arbeitnehmerorganisationen der DDR zerfasern, wenn zwischen Arbeitern und Angestellten, zwischen politischen Richtungen, zwischen dem einzelnen Betrieb und der Branche nicht die Brücke einer einheitlichen Interessenvertretung geschlagen würde. Alle genannten Schwierigkeiten wären zu bewältigen, liefe der deutsche Einigungsprozeß in vernünftigen - also europäischen - Bahnen ab, statt in brisanter Allianz von Geschäft, Gefühl und Wohlstandsgefälle auf einem nationalen Sonderweg vorangepeitscht zu werden.

Von Erich Honecker stammt das Wort, zwischen Krupp und Krause könne es keine Wiedervereinigung geben. Heute sieht es so aus, als hätten die Krauses den Weg freigekämpft für die Krupps, für eine Vereinigung Deutschlands, in deren Fahrplan und an deren Ziel sich das Selbstbestimmungsrecht der DDR-Bevölkerung nur als Szenenapplaus für bundesdeutsche Akteure artikulieren darf. Keine Einheit ist als politische Position nur noch sektiererisch. Einspruch muß aber erhoben werden gegen die Variante Bonner Politik, die die DDR in Schutt und Schrott redet, um sie anschließend nach ihrem Ebenbild schaffen und ihr konservativen Geist einhauchen zu können.

Ob das künftige „Einig Vaterland“ auch etwas anderes sein könnte als die Fortschreibung der BRD auf das heutige Gebiet der DDR - gegen die Frage bereits erhebt die herrschende Politik Unterlassungsklage. Bundesdeutschland heißt die Marschrichtung, wo ein buntes Deutschland die Denkrichtung sein könnte. Der Übersiedlerstrom bildet dabei nur den Anlaß des Denkverbots, der Grund für den Marschbefehl ist ein anderer: Die Zielvorgabe erlaubt es, in der Bundesrepublik nichts und in der DDR alles in Frage zu stellen.

Verständnis dafür zu verweigern, daß der alte Adenauer -Slogan „Keine Experimente“ in der inzwischen wieder schweigenden DDR-Mehrheit grassiert, wäre fast so arrogant wie das Gehabe mancher, die, mit D-Mark gerüstet und der Gnade der westlichen Geburt gesegnet, gen Osten aufbrechen.

Soziale Verwerfungen

als privates Pech

Eine bloße Unterstellung ist die These, die Volkserhebungen jenseits der Mauer hätten den DGB in Sprachlosigkeit gestürzt, weil er seiner gesellschaftspolitischen Utopie beraubt worden sei. Real existierender, real nicht mehr oder real noch nie existierender Sozialismus - diesen Streit um den Bart des Trierer Propheten mögen andere führen. Die gewerkschaftlichen Schwierigkeiten, sich in die gesamtdeutsche Zukunft einzumischen, haben ihre Wurzeln in Wirklichkeit in der Bundesrepublik. Der DGB konnte nicht verhindern, daß die herrschende Meinung die Opfer und Schäden des ökonomischen Erfolgskurses Westdeutschlands nur als zu vernachlässigendes Restrisiko behandelt. Deshalb können heute Szenarien eines wirtschaftlichen Aufschwungs Ostdeutschlands Massenarbeitslosigkeit wie selbstverständlich einkalkulieren, Umweltzerstörungen als technisches Problem abtun und die sozialen Verwerfungen eines rapiden Strukturwandels als privates Pech der Betroffenen abhaken.

Von den 1.000 Fragen in diesem Zusammenhang sei nur die 1.001. gestellt: Ist die Umwelt in der DDR deshalb noch kaputter als in der BRD, weil in unserer Wirtschaftsordnung rücksichtsvoller mit der Natur umgegangen wird? Oder vielleicht nur deshalb, weil in der politischen Demokratie Westdeutschlands der ökologische Protest zwar bekämpft, aber nicht ausgeschaltet werden konnte, während ihm die Einparteiendiktatur der DDR die öffentlichen Artikulationsmöglichkeiten repressiv raubte. Das Rezept der wirtschaftsliberalen Wunderdoktoren, ohne Rücksicht auf soziale Verluste erst einmal die Ökonomie gesunden zu lassen, führt in der Regel zu kranken Gesellschaften und undemokratischen Staaten. Die Marktwirtschaft ist nicht sozial, sondern brutal. Marktwirtschaft ohne die Verankerung des Sozialstaates und ohne den Ausbau der Demokratie würde die DDR-Bevölkerung vom Regen in die Traufe geraten lassen; der erhoffte Goldregen bliebe den Kassen der Konzerne vorbehalten. (...)

Ernst Breit

Der hier - leicht gekürzt - wiedergegebene Text erschien in 'Gewerkschaftliche Monatshefte‘, Nr. 3/90.