Zweifrontenkrieg

Nationalitätenspezialist Prof.Kurasvili zur Legitimität eines Austritts Litauens aus der Union  ■ I N T E R V I E W

taz: Ist die Unabhängigkeitserklärung Litauens gerechtfertigt?

Kurasvili: Der oberste Sowjet Litauens hat beschlossen, aus der Union auszutreten. Aber ich muß doch stark bezweifeln, daß dieser Entschluß juristisch abgesichert ist. Artikel 3 unserer Verfassung schreibt vor, daß über wichtige Fragen der Gesellschaft ein Referendum durchgeführt werden muß. Ich bin dafür, daß auch in Litauen eine solche Volksabstimmung durchgeführt wird. Letzten Endes wird das Ergebnis ohnehin so sein, daß zwei Drittel der Menschen dort für den Austritt sind. Und dann würde eben auch die juristische Grundlage gewährleistet sein, dann hätten wir im Wortsinne einen Rechtsstaat vor uns. Juristisch kann und muß man natürlich das Verhalten der Litauer kritisieren. Aber daß ihr Wunsch auszutreten, berechtigt ist, das bezweifelt niemand in der ganzen Sowjetunion. Vielleicht sollten wir das Vorgehen der Litauer als einen ersten Schritt zu Verhandlungen interpretieren.

Wie paßt es, daß ausgerechnet die Armee das KP-Gebäude besetzt hat?

Ich möchte betonen, daß die Aktion der Armee keine normale Handlung war, sondern einfach der Situation der Rechtlosigkeit geschuldet war. In Litauen ist so etwas wie ein rechtsstaatliches Vakuum entstanden. Das ist nicht gut. Deswegen plädiere ich ja auch dafür, daß der alte Status quo solange beibehalten wird, bis die Verhandlungen abgeschlossen sind. Solange sollten eben die Unionsgesetze gelten. Andererseits dürfen sich diese Verhandlungen nicht in die Länge ziehen, ein paar Monate müßten reichen.

Was wird am Ende des Konfliktes stehen?

Am Ende gibt es natürlich einen selbständigen Staat Litauen, das ist klar. Aber wer will ausschließen, daß Litauen es vorziehen wird, Mitglied einer Konföderation zu sein? Bis dahin wird ja ein neuer Unionsvertrag existieren, und entsprechende Gesetze werden die Modalitäten einer Mitgliedschaft regeln. Eine solche Mitgliedschaft würde für Litauen jedenfalls die unvermeidlichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten abmildern, die dem Land bevorstehen. Das wäre eine weiche Adaption zur unabhängigen Existenz. Ich meine, daß eine Mitgliedschaft für Litauen weniger riskant wäre als die völlige Unabhängigkeit.

Wird der Austritt Litauens in der UdSSR einen Dominostein -Effekt auslösen?

Ja, das ist nicht von der Hand zu weisen. Als nächstes sind wohl Estland und Lettland zum Austritt bereit, danach auch Moldawien und Georgien. Diese fünf Republiken. Bei allen anderen halte ich einen Austritt für sehr fraglich. Und bedenken Sie: Selbst wenn diese fünf austreten, so ist das ja nur ein kleiner Teil unserer Union.

Interview: Sonia Mikich