Litauer und Polen

■ Das Gedächtnis schwächerer Nationen / Der Konflikt zweier Nachbarstaaten

Als im November 1918 Litauen Freistaat wurde, rief man in Polen die Republik aus. Pilsudski plädierte damals für eine litauisch-weißrussisch-ukrainische Föderation unter polnischer Führung. 1919 wurde Vilnius von Polen besetzt, 1920 marschierte die Rote Armee in die Stadt ein und gab sie im Frieden von Moskau an Litauen zurück. Noch im selben Jahr eroberten Freischärler der litauisch-weißrussischen Division der polnischen Armee aufs neue Vilnius. Die Stadt und das sie umgebende Gebiet blieb bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges polnisch. Der ständige Konflikt der beiden Nachbarstaaten verhinderte damals unter anderem das Wirksamwerden einer baltischen Entente.

Als die Rote Armee in Folge des Hitler-Stalin-Paktes in Ostpolen einmarschierte, erhielten die Litauer ihre geliebte Stadt aus der Hand ihrer späteren Okkupanten zurück. In der Konferenz von Jalta wurde die Curzon-Linie zur polnischen Ostgrenze erklärt. Die Verschiebungen der Grenzen verursachten einschneidende Umsiedlungen. Ca. 3 Millionen Polen wurden aus den ehemaligen Ost- in die neugewonnenen Westgebiete geschickt. Teilweise waren Polen schon 1939 aus Vilnius abgeschoben worden, weitere, besonders aus der Intelligenzschicht, wurden in den ersten Nachkriegsjahren Opfer der stalinistischen Deportationen. Jeder Pole, der noch etwas werden wollte, versuchte nach dem Krieg, nach Polen auszuwandern. So blieben in und um Vilnius nur noch ca. 270.000 Polen, etwa 7 Prozent der gesamten Einwohnerschaft Litauens.

Gegenüber den polnischen Minderheiten, die in Weißrußland und der Ukraine wohnen, haben die Polen Litauens recht gute Möglichkeiten: eigene Schulen, eigene Lehrerausbildung, eigene Zeitungen, Rundfunksendungen, usw. Jedes Jahr nimmt aber die Zahl der Kinder ab, die polnische Schulen besuchen. Viele der „tutajsi“, der „Hiesigen“, wie sie sich selbst nennen, schicken ihre Kinder lieber in russische Schulen. Die Intelligenz ist seit langem ausgewandert, die einfache Bevölkerung geblieben. Es mangelt an fähigen Leuten, die das Identitätsgefühl der Polen auf neue Art konstruktiv beleben könnten. Angesichts der Flut von nationalen Symbolen, Fähnchen und Forderungen der Litauer (deren Nationalismus natürlich nach fast fünfzigjährigem Verbot erst einmal überschwappt), blieb den „Hiesigen“ kaum etwas anderes übrig, als verängstigt und frustriert zu reagieren. Da es ihnen an intellektuellen Kräften in ihren Reihen mangelt, begingen sie einen unklugen Schritt und verbündeten sich mit der russischen Antisajudisbewegung „Jedinstvo“.

Das erboste natürlich die Litauer, die von den Polen schlagartig soviel politische Einsicht, daß es auch ihnen in einem unabhängigen Staat viel besser erginge, gefordert hatten. Lech Walesa, riet im Februar 1989 in einem offenen Brief seinen Landsleuten zu politischer Besonnenheit. Anläßlich der jetzt erfolgenden Aufarbeitung der Geschichte des unabhängigen Litauens (die ja unter Stalin und Breshnew nicht geschehen durfte), wärmen die Litauer natürlich alte Ressentiments auf.

Die litauischen Polen sind sowieso in der Defensive; ihre Position wird erst recht durch das zweifelhafte Ansehen ihrer „handelsreisenden Landsleute“, die es wie überall in Europa, auch in Litauen zahlreich gibt, noch um einiges geschwächt. Da kommt jetzt eine ganze Menge unverarbeitetes hoch. Hier beweist sich wieder, daß Tatsachen, die aus dem öffentlichen Bewußtsein verdrängt wurden, unbewältigt bleiben. Und so ist ein Satz wie „Litauische Nationalisten beschuldigen die Polen, sie seien Kollaboranten Moskaus“ (taz 29.3.) in seiner knappen Form der Situation wenig hilfreich.

Andererseits war die Vertreibung aus den Ostgebieten auch jahrzehntelang ein Tabuthema in Polen. Viele Menschen wurden in Szczeczin und Wroclaw nicht recht heimisch, sie sehnten sich nach Wilna und Lemberg zurück. Es ist gut und unbedingt wichtig, daß die polnische Regierung die Nachkriegsgrenzen weiter akzeptiert. Das geschieht nicht aus Resignation. Man weiß, daß die Akzeptanz dieser Grenzverhältnisse die Voraussetzung ist, um den in die UdSSR integrierten Völkern zu ihren bisher verwehrten nationalstaatlichen Rechten zu verhelfen. Die Polen wissen ganz genau, daß das Gedächtnis schwächerer Nationen von größerer Dauer ist.

Und so ist es mehr als nur ein Zeichen der Solidarität, das Bronislaw Geremek und seine Parlamentarierdelegation mit ihrem Besuch in Vilnius setzten. Grenzländer hatten von jeher eine eigene Problematik. Eine aufrichtige Beziehung zwischen Litauern und Polen erfordert eine intensive Kenntnis der Situation und klare Vorstellung über die geopolitische Situation. Die Fraktion der Solidarno1sc hat dazu den ersten Schritt getan. Apropos Besuch: In den Zeiten der deutsch-deutschen Nabelschau finde ich es sehr wichtig, daß auch aus der noch Existierenden eine Delegation Bürgerrechtler in das Baltikum fahren sollte. Ich denke, wir haben den Bewegungen dort eine Menge Ermutigung zu verdanken und unsere öffentliche Sympathiebekundung könnte ihnen Unterstützung sein.

Ruth Kibelka