Die Letten sind vorsichtiger als die Litauer

Lettische KP spaltet sich in einen unabhängigen und einen Moskau-loyalen Flügel / Die Unabhängigkeitsbewegung Tautas gibt sich wesentlich zurückhaltender als die litauische Sajudis / „Wir halten nicht soviel von symbolischen Akten“ / Ausgleich mit Moskau gesucht  ■  Aus Riga Sonia Mikich

Das Ergebnis stand schon fest, bevor eine einzige Hand zur Abstimmung erhoben wurde. Die lettischen Kommunisten trennten sich am Wochenende in einen unabhängigen und einen weiterhin Moskau-loyalen Flügel.

Als sich am Freitag morgen die 800 Delegierten der lettischen KP zu ihrem 25. Parteitag trafen, standen auch ein paar Anhänger der „Tautas“, der lettischen Volksfront auf dem Platz vor der Kongreßhalle. Auf Plakaten verglichen sie die örtlichen Parteikonservativen mit Stalin: „Okkupanten aller Länder - die Heimat ruft euch“, schrien sie den Delegierten zu. Doch mag die Tautas im Parlament auch die absolute Mehrheit haben, in der Kongreßhalle haben die Moskautreuen das Sagen.

Die „Interfront“, die Vertretung der Russen, hat eine Menschenkette gebildet. Die überwiegend alten Männer halten Schrifttafeln hoch, auf denen die Bindung zur Union trotzig beschworen wird. Wagenburgstimmung. „Nein, wir gehen nicht den Weg Litauens“, sagt Igor Lopatin, Vorsitzender der Interfront, die den konservativen Flügel der KPdSU unterstützt. Lopatin bezeichnet die Interfront als Interessenvertretung der Arbeiter, der kleinen Leute. Und denen sei vor allem an einer Verbesserung des Lebensstandards gelegen. Auch um die ökologischen Probleme müsse man sich kümmern. Die Frage der Unabhängigkeit sei sekundär und nur in Übereinstimmung mit der Unionsverfassung zu lösen.

Interfront contra Volksfront

Igor Lopatin ist der typische Vertreter jenes rechten Flügels innerhalb der KPdSU, der sich eines großen Rückhalts innerhalb der von Glasnost und Perestroika zutiefst verunsicherten Arbeiterschaft erfreut. Popularität verschaffen sich die Interfrontler Rigas, indem sie sich für eine Verbesserung der Umwelt einsetzen und Angst vor den lettischen Nationalisten schüren.

Kein Wunder, daß die Interfront inzwischen der eigentliche politische Gegner der Tautas ist. Die Hardliner innerhalb der lettischen KP werden von der Volksfront mit größerem Mißtrauen bedacht als etwa der ferne Staatspräsident in Moskau.

Noch hat die KP Lettlands 180.000 Mitglieder. Nur etwa ein gutes Drittel sind Letten, und die sympathisieren überwiegend mit der Tautas und dem Marsch in die Unabhängigkeit. Trotzdem meint Ivas Prieditis, ein liberaler Kommunist, daß die Spaltung eigentlich zu früh kam: „Am 14. April werden sich die Unabhängigen zu einer eigenen Partei mit eigenem Programm offiziell formieren. Das schafft zwar Klarheit, aber wir werden vielleicht nicht mehr so viel Einfluß auf die Politik nehmen können. Wir sind zahlenmäßig zu klein. Die meisten lettischen Kommunisten sind ja längst zur Volksfront übergelaufen.“

Die Wahlen im März brachten den Separatisten eine satte Mehrheit. Zur Zeit stehen die letzten Nachwahlen an, und deren Ergebnis wird die Weichen für den Austritt aus der Union stellen. Noch hat die Tautas, mit den Reformkommunisten im Schlepptau, keine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Und die braucht sie, um im Mai, wenn die erste Sitzung des Obersten Sowjet stattfindet, die Unabhängigkeit zu proklamieren. Anders als in Litauen werden in Riga klare Mehrheitsverhältnisse und vor allem Rechtssicherheit gesucht. Der Grund ist offensichtlich: In Lettland besteht die Bevölkerung fast zur Hälfte aus Nicht-Letten - aus Russen, Ukrainern und Polen.

„De jure sind wir noch in der Sowjetunion, und es wird einige Zeit brauchen, bevor wir de facto unabhängig sind. Also müssen wir dafür sorgen, daß alle Bürger, Letten und Nicht-Letten, genau wissen, welches Recht hier in der Übergangszeit gilt.“ Dainis Ivans, der 34jährige Volksfrontchef, tagt zur Zeit fast rund um die Uhr im Hauptquartier in der Altstadt. Er ist genauso populär wie sein litauischer Kollege Landsbergis, aber weniger emotional. „Symbole sind schön und gut, aber wir sind politische Amateure und müssen darum besonnen vorgehen.“

Wir brauchen keine Symbole

Man will aus den Fehlern Litauens lernen. Die dringlichsten Fragen: Wer bekommt die lettische Staatsangehörigkeit? Darf einer, der sowjetischer Bürger bleiben will, in Lettland wählen? Wie bewegt man Moskau dazu, lettische Rekruten nur in baltischen Kasernen dienen zu lassen? Wie geht man die Demilitarisierung der Republik an? Der ganze Sitzungssaal summt und brummt vor lauter ungelösten Fragen. Die Tautas, so wird beschlossen, muß vor der ersten Parlamentssitzung zu Gorbatschow gehen. „Was, wir sollen nach Moskau reisen?“ fragt einer der Diskutanten empört. „Ja, selbstverständlich. Wir lassen es nicht zu einer Kraftprobe kommen, die wir nicht gewinnen können“, sagt ein anderer.

„Landsbergis hat nie Diplomatie gelernt, wenn er redet, dann spricht er als Volksvertreter“, so kritisiert ganz vorsichtig Volksfrontmitbegründer Edvard Bergvalds. Er ist Deputierter im Obersten Sowjet und gehört zu den „großen alten Männern“ der Baltenrepublik. Einst war er stellvertretender Ministerratsvorsitzender und fiel in Ungnade, als er die Russifizierungspolitik Moskaus kritisierte. Nein, er sei kein Nationalist, aber es ginge doch nicht an, daß Zugezogene wie der Interfrontler Lopatin, der erst seit drei Jahren in Riga wohnt, die Politik im Lande prägen. Niemand dürfe wegen seiner Nationalität diskriminiert werden. Aber die Letten würden als Volk immer kleiner und kleiner werden, wenn noch mehr Fremde ins Land kämen. Und eines Tages wären die Letten nur noch eine Fußnote im roten Buch der ausgestorbenen Arten. Wenn nicht bald die Unabhängigkeit käme.

Deserteure als Hauptproblem

In der Sitzungspause taucht Anita Stankewitscha auf. Sie unterrichtet die Runde über die neuesten Desertionsfälle. Ihr Büro ist eine halbe Treppe entfernt vom Sitzungssaal, im gleichen Gebäude. Die Miete zahlt die Volksfront. Die Tür zum 16 Quadratmeter großen Raum der Frauenliga ist für manche Familien die zur Zeit wichtigste in ganz Riga. Zur ersten Frauengruppe der Stadt kommen Fahnenflüchtige, die sich aus sowjetischen Kasernen abgesetzt haben, oder Rekruten, die erst gar nicht hinwollen. Desertion - das ist eins der heikelsten Themen im Verhältnis Republik/Union. Über 1.000 solcher Fälle hat die Frauenliga seit ihrer Gründung vor zwei Jahren dokumentiert. Zwei Hauptamtliche und eine Gruppe von etwa 15 Müttern und Ehefrauen kümmern sich um Rechtsanwälte, besorgen Geld für die Prozeßkosten und verstecken die Deserteure.

Anders als in Litauen, wo das Parlament eine Stelle für die Registrierung der Wehrdienstverweigerer einrichtete, ist es in Riga eine Initiative von unten, die den Nervenkrieg mit der Sowjetarmee aufgenommen hat.

Auf Desertion stehen fünf Jahre Gefängnis. Viele der jungen Männer, die sich hier die Klinke in die Hand geben, stehen sichtlich unter Druck. Sie haben Angst, fern der Heimat strafversetzt zu werden, zu den „Schwarzen“, wie die Truppen in Mittelasien heißen. In allen Briefen, die die Tische der Liga überfluten, die gleiche Klage: Als Lette wird man isoliert, beschimpft, schikaniert. Balten gelten grundsätzlich als „Faschisten“, sie werden von ihren Vorgesetzten geprügelt und getreten. Die Militärärzte diffamieren sie als Geisteskranke. Briefe nach Hause sind nicht erlaubt. Niemand hilft.

Am schlimmsten aber, sagt Anita Stankewitscha, seien die ungeklärten Todesfälle. Sie spricht von Mord aus nationalistischem Haß und zeigt das Foto eines aufgebahrten Letten mit zerschlagenem Gesicht. Er wurde von „Unbekannten“ während des Wehrdienstes im fernen Murmansk zu Tode getreten. Die Nachforschungen der Armee verliefen im Sande, und die Eltern des Toten mußten einen Kleinkrieg gegen die Bürokratie führen, um wenigstens den Zinksarg öffnen zu dürfen und die Todesursache ärztlich feststellen zu lassen. Die Frauenliga legt jetzt ein „Schwarzbuch“ über solche Fälle an. Sechs Namen stehen bislang darin.

Denjenigen, die noch nicht eingezogen wurden, rät Anita Stankewitsch zum „Alternativdienst“. Seit dem 1. März kennt Lettland den Zivildienst, eine Premiere in der Sowjetunion. Das Parlament verabschiedete ein Gesetz, demzufolge junge Männer aus pazifistischer oder religiöser Überzeugung den Gang zur ungeliebten Armee verweigern dürfen.

Zwanzig Einberufene haben sich schon bei der Frauenliga gemeldet, obwohl der Ersatzdienst ein Jahr länger dauern wird. Für den 20jährigen Richard, der sich vor einer Woche von seiner Truppe abgesetzt hat, kommt diese Chance zu spät. „Wie kann ich mich frei fühlen, wenn die Armee hinter mir her ist? Ich muß ständig nach links und rechts schauen, kann mich nicht frei bewegen, muß bei fremden Leuten leben. Solange Lettland nicht wirklich unabhängig ist, bin ich nicht wirklich zu Hause.“

Aber Richard verbrennt seinen roten Paß nicht, wie es die symbolverliebten Litauer machten, sondern er gibt ihn bei der Frauenliga ab. Dort wird er zum Aktenzeichen, zum juristischen Vorgang. Von spektakulären Aktionen halten hier die wenigsten etwas. „Abtauchen und abwarten“, meint Richard, „das ist nicht so gefährlich.“

Die einzigen schrillen Stimmen in Riga sind ausgerechnet am Lenin-Denkmal zu hören. Hier in der Freiheitsstraße (die auch schon mal Adolf-Hitler-Straße hieß) versammelt sich täglich eine Handvoll Leute, die ihre Solidarität mit Litauen bekundet. „Die Litauer machen es schon ganz richtig“, sagt ein älterer Mann. „50 Jahre haben wir auf die Freiheit gewartet. Wenn es so langsam weitergeht, so vorsichtig, dann werden wir nochmals 50 Jahre brauchen.“

Eine junge Frau hält mir ein Plakat entgegen, worauf Litauen mit Afghanistan und Baku verglichen wird, den dunklen Flecken in der Geschichte der Sowjetarmee. „Weg mit den roten Faschisten und Okkupanten“, ruft sie. Ganz geheuer ist der Lettin das eigene Schimpfen jedoch nicht. Mit „Faschisten“ meine sie natürlich nicht ihre netten russischen Nachbarn, sondern nur die Zugezogenen.