„Tabus darf es nicht geben“

Das Ende des „realen Sozialismus“ in den Ländern Osteuropas hat im DGB eine alte Diskussion um innergewerkschaftliche Tabu-Themen neu entfacht  ■ D E B A T T E

Die SED hat den sich selbst so nennenden Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) umfunktioniert und als Transmissionsriemen für ihre despotische Parteiherrschaft mißbraucht. Es waren nicht nur Harry Tisch und andere, die mit „Amtsmißbrauch und Korruption“ den FDGB in Mißkredit gebracht haben. Das kommunistische System und seine Strukturen sind die Ursache. Die Unterdrückungsmethoden haben die DDR-Gesellschaft geprägt - und Spuren hinterlassen. Dies und vieles mehr müssen die Gewerkschaften in der Bundesrepublik nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern in die notwendige Diskussion um ihre Zukunft in einem zusammenwachsenden Deutschland miteinbeziehen.

Dieter Wunder (GEW-Vorsitzender) schreibt in den 'Gewerkschaftlichen Monatsheften‘ (12/89): „Der Zusammenbruch des 'realen Sozialismus‘ hat für die betroffenen Gesellschaften und ihre Außenbeziehungen schwerwiegende Folgen; er zwingt aber auch die Gewerkschaften der Bundesrepublik, ihr Selbstverständnis zu überdenken.“ Karlheinz Blessing (Vorstandssekretär der IG Metall) sieht in seiner Replik (GMH 1/90) im „Sinne der Ausgangsthese von Dieter Wunder... keinen Anlaß, über Konsequenzen für die Gewerkschaften nachzudenken, weil ein despotischer Alleinherrscher in Rumänien stürzte, der sein Regime mit dem Begriff Sozialismus zu legitimieren suchte“!

Inzwischen ist Blessing vom stellvertretenden Vorsitzenden der IG Medien, Detlef Hensche, öffentlich korrigiert worden. Dieser hat im Gespräch mit der 'Frankfurter Rundschau‘ vom 2.3.90 eingeräumt, „bundesdeutsche Gewerkschafter (hätten) in der Vergangenheit ihre Kritik an Zuständen und Institutionen in den osteuropäischen Ländern bei weitem nicht entschieden und öffentlich genug vorgetragen“.

Hensche gehört zu denjenigen, die sich nie gescheut haben, auch öffentlich mit Parteikommunisten und anderen Anhängern des „realen Sozialismus“ gemeinsam aufzutreten und gemeinsame Sache zu machem. Das war und ist selbstverständlich sein gutes Recht. Das Recht Andersdenkender war und ist es, das zu benennen, zu kritisieren und eine Diskussion darüber in Gang zu setzen. Der eigentliche Skandal ist aber der auch von Hensche mitgetragene Versuch, eine Diskussion über solche Vorgänge zu verhindern, ein Vorgang, der auch durch seine „Selbstkritik“ nicht vergessen gemacht werden kann.

Vor diesem Hintergrund wirkt es geradezu grotesk, wenn Hensche heute beklagt, daß die Gewerkschaften ihre Konflikte „hinter dick verschlossenen Türen“ ausgetragen hätten und deshalb mehr Pluralität und Offenheit bräuchten. Ganz und gar unerträglich wird es, wenn er behauptet, diesen bürokratischen Erscheinungen, die jetzt zum Niedergang des Sozialismus in Osteuropa wesentlich beigetragen hätte, seien von Gewerkschaftern auch hierzulande ansatzweise „mit der Muttermilch eingesogen“ worden. Das macht deutlich, daß er die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung durch die radikale Abwendung der Kommunisten von der demokratischen Tradition der Arbeiterbewegung bis heute nicht begriffen hat oder begreifen will.

Selbstverständlich hat es von den Anfängen der Einheitsgewerkschaft in der Bundesrepublik Deutschland bis in die jüngste Vergangenheit Irrtümer, Verirrungen, auch schlimme Verfehlungen handelnder Personen gegeben. Das muß aufgearbeitet, strukturell offengelegt werden. Alles aber, wie es Hensche tut, auf einen „Ast“ zurückzuführen, „der aus dem gleichen Stamm kommt, aus dem auch andere Ströme einschließlich ihrer Perversionen gewachsen sind“, offenbart, daß er sich nach wie vor in einer Tradition bewegt, die die Methode der Geschichtsklitterung im Laufe der Jahre und Jahrzehnte ausgefeilt und fast zur Perfektion entwickelt hat.

Von zentraler Bedeutung in der Ausdeutung geschichtlicher Abläufe war das 1978 von den Abendroth-Schülern Frank Deppe, Georg Fülberth und Jürgen Harrer herausgegebene Buch Geschichte der Gewerkschaften, das unmittelbar nach seiner Veröffentlichung, und damit ohne die Möglichkeit einer kritischen Überprüfung seiner Inhalte zur Grundlage der Bildungsarbeit der IG Metall gemacht werden sollte.

Gestoppt werden konnte dieser Versuch nur, weil der Berliner Historiker Manfred Scharrer öffentlich Krach schlug und das Buch als den „bisher geschickteste(n) Versuch, die parteikommunistische Geschichtskonstruktion an den bundesrepublikanischen Leser zu bringen“, enttarnte. Scharrer sah sich schnell inszenierten öffentlichen Diffamierungsversuchen ausgesetzt.

An seine Seite stellte sich Peter von Oertzen, kritisierte nicht nur die Abendroth-Schüler, sondern auch ihren Lehrer wegen dessen Rechtfertigungsversuch der Inhaftierung Rudolf Bahros durch das SED-Regime. Mit einer von vielen Gewerkschaftssekretären unterschriebenen Ehrenerklärung für Abendroth wurde eine Kampagne gegen von Oertzen eingeleitet. Immerhin wurde aber der Versuch verhindert, „ein Interpretationsmonopol für Geschichte zu etablieren“ (Schmitz).

Ebenfalls 1978 wurde eine Abhandlung des IG-Metall -Bildungssekretärs Peter Scherer über das Sozialistengesetz, das 1878 in Kraft getreten war, als Bildungsheft seiner Gewerkschaft öffentlich. Die IG Metall sah sich kurz darauf mit dem Nachweis konfrontiert, Scherer habe weite Strecken aus der vom Zentralkomitee der SED herausgegebenen Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung abgeschrieben. Das Heft wurde schließlich zurückgezogen.

1979 stellte Hensche öffentlich fest, es gebe keinen Unterschied zwischen kommunistischer und sozialdemokratischer Gewerkschaftsarbeit. Der damalige Juso -Bundesvorsitzende Gerhard Schröder widersprah ihm im 'ÖTV -Magazin‘, ansonsten blieb dieser Versuch, das gewerkschaftliche Selbstverständnis der Sozialdemokratie zur Disposition zu stellen, in den Gewerkschaften nahezu unbeanstandet.

Einen Höhepunkt der Angriffe stellte der Hensche-Auftritt auf dem außerordentlichen Kongreß des DGB 1981 dar, wo er die wissenschaftlich ausgewiesenen Autoren des Buches Der Marsch der DKP durch die Institutionen - Ossip K. Flechtheim, Wolfgang Rudzio, Fritz Vilmar, Manfred Wilcke als „verwirrte Geister“ bezeichnete.

Für solche und andere „Perversitäten des realen Sozialismus“ hat Hensche heute laut 'Frankfurter Rundschau‘ folgende Erklärung parat: Da, wo man die Macht errungen habe, habe danach die Sicherung dieser Macht im Vordergrund gestanden, einschließlich aller Brutalitäten und des Einsatzes dieser Macht auch gegen „irrende Freunde“. „Dies ist keine zutreffende Beschreibung für die Ursachen stalinistischen Terrors. Sie offenbart aber den Diskussionsbedarf über unser gewerkschaftliches Selbstverständnis.“ Wer hat denn geirrt? Stalin oder seine Terroropfer? Und wären die Bautzener Gefangenen Ulbrichts „irrende Freunde“?

Die ständig neu aufflackernde Debatte um die Frage, ob Gewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland Ordnungsfaktor und/oder Gegenmacht sein sollen und dürfen, hat die Gemenge-Lage immer wieder schlaglichtartig erhellt. HBV-Vorstandsmitglied Götz war das stets klar: Gewerkschaften sind ausschließlich Gegenmacht und müssen das auch bleiben.

Bei dieser Betrachtungsweise bleibt ausgeblendet, daß gewerkschaftliches Handeln diese Alternative gar nicht kennt, weil beides in einem dialektischen Zusammenhang steht. Die Stärke der deutschen Gewerkschaften rührt gerade aus ihrer Doppelfunktion: Gewerkschaften handeln immer kooperativ und konfliktorisch. Blessing schlußfolgert: „Gewerkschaftsarbeit heißt in der Zukunft noch mehr als in der Vergangenheit die Einheit der Vielfalt zu organisieren.“ Dabei sei ein differenzierter Interessenansatz ebenso notwendig wie die Herausarbeitung gemeinsamer Ziele und Grundwerte. Das erfordere von den Gewerkschaften mehr Kraft, mehr fachliche, politische und kommunikative Kompetenz.

Dem ist zuzustimmen. Nur, wie kommen wir dahin? Zukunftskongresse sind das eine. Sie sind und bleiben wichtig. Die Befähigung handelnder Personen in den Gewerkschaften ist das andere, vielleicht noch wichtigere. Das Ansehen von Gewerkschaften hängt immer auch von der Kompetenz ihrer Funktionäre ab. Das öffentliche Bild der Gewerkschaften wird nun einmal nicht willkürlich von außen gemalt, es ergibt sich auch ihrem inneren Zustand.

Keine Gewerkschaft wird daran vorbeikommen, ihren inneren Zustand immer wieder zur prüfen, kritisch zu beleuchten, Konsequenzen zu ziehen. Nicht der offene und öffentliche Streit um gewerkschaftliches Selbstverständnis, um Programmatik und Handeln schaden, sondern das Verschweigen und Bemänteln dessen, was war und was ist. Tabus darf es nicht geben.

Norbert Römer

Der Autor ist Pressesprecher bei der IG Bergbau und Energie.

Der hier stark gekürzte Beitrag erscheint demnächst in 'Gewerkschaftliche Monatshefte‘, 4/90.