„Der Wunsch der deutschen Einheit“

 ■ D I E A N D E R E N

Der Staat, autoritär im Politischen, aber liberal im Wirtschaftlichen, gibt dem Kapitalismus, was er haben will: Aktien- und Wechselrecht, einheitliche Handelsgesetzgebung, Konzentration der Banknotenausgabe, Vereinfachung des Münzwesens, der Maße und Gewichte. Dann wirkten die Milliarden der französischen Kriegsentschädigung wie eine aufpeitschende Droge im Blut der deutschen Volkswirtschaft. Tolle Erwerbsgier erfaßte breite Schichten des Bürgertums und der Aristokratie...

Große Wünsche sind nach ihrer Erfüllung selten so schön wie vorher. Dieser, der Wunsch der deutschen Einheit, war noch darum weit weniger schön, als er ehedem zu sein versprochen hatte, weil die Deutschen Pech hatten mit der Zeit seiner Erfüllung. Es war ja kein hochfliegendes, geistig produktives Zeitalter, dies späte 19. Jahrhundert...

Läßt man das Gesamtbild wie von ferne auf sich wirken, ohne noch die einzelnen Figuren zu betrachten, so bleibt ein fatal gemischter Eindruck: hartgesottene „Realpolitik“ und schwüle Religiosität, prunkende Theatralik, selbstgerechter Nationalismus, bei allem inneren Zank, Materialismus, überwältigt von den Erfolgen der Naturwissenschaft und doch bereit, in billigen Mystizismus umzuschlagen.“

Golo Mann

Der Autor ist Schriftsteller und Historiker.