Sensationeller Sicherheitsplan für Europa

Zentraleuropäische Sicherheitsgemeinschaft soll Diskussion um Nato-Deutschland und neutrales Deutschland überflüssig machen / Egon Bahrs Hamburger Friedensforschungsinstitut nennt Ziel und Weg für eine friedliche Zukunft Europas / Abrüstung um 80 Prozent  ■  Aus Hamburg Florian Marten

„Wir haben eine Übergangslösung hinter uns, die hat 40 Jahre gedauert.“ Egon Bahr, altgedienter SPD-Entspannungspolitiker und Chef des Hamburger Friedensforschungsinstitutes IFSH hat die Nase voll von Übergängen: „Ich muß wissen, wohin ich gehe, wenn ich losmarschiere.“ Dieses Wissen vermißt er bei den gegenwärtigen Diskussionen um die Sicherheitszukunft Europas, die sich auf die Alternative neutrales Groß -Deutschland oder Nato-Groß-Deutschland zugespitzt hat.

Das ISFH hat gestern ein eigenes europäisches Sicherheitskonzept vorgelegt, um sich in die am 5.Mai beginnenden 4+2-Verhandlungen einzumischen. Das Konzept ist ebenso revolutionär wie großmachtfeindlich: Nicht die Amis und die Sowjets sollen die europäische Sicherheit garantieren, sondern eine eigene, neu aufgebaute europäische Sicherheitsgemeinschaft. Und Egon Bahr nennt rhetorisch die Alternative: „Oder ich dehne das alte konfrontative System nach Osten aus: Wo ist dann aber der Gegner, wo die Grenze, an der die eigenen Truppen stationiert werden? Die Oder -Neiße-Grenze? Die sowjetische Grenze?“

Nein, die Zeit der europäischen Ost-West-Konfrontation sei vorbei, Nato und Warschauer Pakt „haben ihren Zweck erfüllt“, Neues müsse an ihre Stelle treten. Als realistische Keimzelle dieser neuen europäischen Sicherheitsgemeinschaft sehen die AutorInnen des IFSH -Konzepts „Zentraleuropa“, das sind: das vereinte Deutschland, die Benelux-Staaten, Dänemark, Polen, die Tschecheslowakei und Ungarn.

In dieser „Region überhöhter Gefährdung“ (Waffen- und SoldatInnenkonzentration wie sonst nirgends auf der Welt), die gegenwärtig auch Gegenstand der Wiener Abrüstungsverhandlungen ist, soll „eine multinationale Sicherheitsorganisation, die kein Bündnis ist“ neu enstehen.

Ihr oberstes Entscheidungsorgan, ein Sicherheitsrat, in welchem alle Länder vertreten sind, soll die Militär- und Abrüstungspolitik der Staaten der Sicherheitsgemeinschaft bestimmen. Die radikale Abrüstung auf nur noch 500.000 statt bisher 2,5 Millionen Soldaten (so die weitreichendste Variante) in der Sicherheitsgemeinschaft soll vom Aufbau einer gemeinsamen militärischen „Euro-Polizei“ begleitet werden.

Diese soll zum schnellen Eingreifen bei Bedrohung von außen beziehungsweise bei Vertragsverletzungen im Innern fähig sein.

Die nationalen Restarmeen (in Gesamtdeutschland noch 105.000 statt heute 615.000 SoldatInnen) sollen dagegen zum Eingreifen überhaupt nicht mehr in der Lage sein. Sie sollen „ein Höchstmaß an Verteidigungseignung mit einem Höchstmaß an Untauglichkeit zur weiträumigen Offensive verbinden“, sagt der Abrüstungsexperte Bahr. Für eine Übergangszeit blieben die Staaten der neuen 8er-Gemeinschaft parallel in ihren alten Militärblöcken, wären auch immer noch „fremde Truppen auf fremden Territorien stationiert“ - ein Zustand, den sich Egon Bahr „auf Dauer nicht vorstellen kann“.

Der Vorschlag, das weiß Bahr, bedeutet eine Abfuhr für die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten, die sich bislang als alleinauthorisierte Weltpolizisten fühlen. Mit einer europäischen Sicherheitsgemeinschaft, die von Zentraleuropa schrittweise weiterwächst und eines Tages ganz Europa „vom Ural bis zum Atlantik“ erfaßt, wäre ein neues Zeitalter der Welt-Militärstrukturen angebrochen.

Egon Bahr, der glaubt, in dem Konzept seines Instituts werde „buchstabiert, was der Bundesaußenminister Genscher so gemeinhin sagt“, ist optimistisch hinsichtlich der Realisierung seiner Vorschläge: „Die Logik führt dazu“.

Im Idealfall könnten schon die europäischen Helsinki-II -Verhandlungen im Frühjahr 1992 das Vertragswerk einer Sicherheitsgemeinschaft verabschieden. Die Voraussetzung ist allerdings, daß das Konzept der Hamburger Friedensforscher möglichst schnell Eingang in den offziellen Prozeß politischer Willensbildung findet.