Das „Musterentwicklungsland“ stößt an seine Grenzen

Letztes Jahr schlugen die Ökonomen Südkoreas Alarm. Das Wirtschaftswachstum war etwas unter sieben Prozent abgesunken - in Südkorea Grund genug, vor einer beginnenden „Krise“ zu warnen. Von knapp 7 Prozent Wirtschaftswachstum können die meisten Länder der Welt nur träumen. Aber Südkoreas Geschäftswelt hat andere Maßstäbe. Ihr Erfolgsgeheimnis beruhte jahrzehntelang auf einer Kombination von rasantem Wirtschaftswachstum und ständig steigenden Exporten, die die Weltmärkte Branche um Branche eroberten.

Die „kleinen Tiger“

Südkorea gehört zu den „kleinen Tigern“, wie die südostasiatischen Schwellenländer Taiwan, Hongkong, Singapur und Südkorea wegen ihrer aggressiven Exportorientierung genannt werden. Vor 30 Jahren eines der ärmsten Länder der Erde, ist Südkorea heute die zwölftgrößte Handelsnation.

Und längst sind es nicht mehr die Billigprodukte der Textilindustrie, die das Profil der südkoreanischen Exporte ausmachen. Anfang der achtziger Jahre, als sich die Industrieländer über die Bewältigung ihrer Stahl- und Werftenkrisen den Kopf zerbrechen mußten, wurden in Südkorea die größten Stahlwerke der Welt aus dem Boden gestampft. In kurzer Zeit entwickelte sich das Land zum neuntgrößten Produzenten von Stahl. Die südkoreanischen Schiffbauer liegen in der internationalen Konkurrenz mittlerweile an zweiter Stelle hinter Japan. Heute verlagern sich die Exporte zunehmend auf den Automobilsektor, den Maschinenbau und den elektrotechnischen Bereich. Südkorea ist auf dem besten Weg, sich zum ernsthaften Konkurrenten für die japanischen High-Tech-Exporteure zu mausern.

Als das Schuldnerland Südkorea 1986 auch noch begann, seine Auslandsschulden aus eigener Kraft zurückzuzahlen, avancierte es endgültig zum Musterentwicklungsland. Die Herren von IWF und Weltbank sahen den Beweis erbracht, daß die Integration in den Weltmarkt ein Segen für die „Dritte Welt“ sei. Und selbst einige linke Theoretiker sahen sich veranlaßt, ihre Theorien zu revidieren. Die Ausrichtung am Weltmarkt, so hieß es nun, könne durchaus ein erfolgversprechender Entwicklungsweg sein. Den ökonomisch durchweg gescheiterten Ländern Lateinamerikas wird der Erfolg des exportorientierten Entwicklungsweges Südkoreas seitdem ständig vor die Nase gehalten.

Nur ein kleiner Schönheitsfehler blieb an dem Musterentwicklungsland haften: Die Arbeiterinnen und Arbeiter, die das Exportwunder produzierten, mußten es mit extrem niedrigen Löhnen und zunehmenden Arbeitszeiten bezahlen. Vor allem die miserablen Lebensbedingungen der in der Textil- und Elektronikbranche beschäftigten Frauen erlangten traurige Berühmtheit. Noch 1986 verdienten 86 Prozent der Arbeiterinnen trotz der weltweit längsten durchschnittlichen Arbeitszeit weniger als 400 D-Mark im Monat.

Auch das sei nur eine Frage der Zeit, argumentierten die Verfechter des exportorientierten Entwicklungsweges. Mit den wirtschaftlichen Fortschritten würden sich schließlich auch die sozialen Verhältnisse denen der westlichen Industrieländer angleichen. Demokratisierung und starke Lohnerhöhungen in den letzten Jahren schienen das zu bestätigen. Insofern sind die aktuellen Auseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und Staat eine Nagelprobe auf das „Entwicklungsmodell“ Südkorea.

Mächtige Großbetriebe

Die südkoreanischen Exporterfolge beruhten - neben den extrem niedrigen Löhnen - auf einer gezielten staatlichen Industrieförderung. Die Regierung stützte sich dabei vor allem auf kapitalintensive Großbetriebe. Diese Konzentration wirtschaftlicher Macht ermöglichte immer wieder gezielte Vorstöße in neue Weltmarktbranchen, die nur mit der geballten Finanzkraft der Wirtschaftsgiganten erfolgreich zu bewältigen waren. Resultat dieser Politik ist eine Wirtschaftsstruktur, die von einer Handvoll riesiger Wirtschaftskonglomerate beherrscht wird, den „Chaebols“. Der größte unter ihnen ist Hyundai, ein Mischkonzern, der auch als größter südkoreanischer Autohersteller bekannt ist.

In den modernsten Sektoren, wie der Automobilindustrie, ist der Automatisierungsgrad inzwischen dem westlicher beziehungsweise japanischer Anlagen vergleichbar. In diesen Bereichen verlieren die Kostenvorteile durch niedrige Löhne tatsächlich allmählich an Bedeutung. Der weitaus größte Teil der südkoreanischen Exporte wird aber nach wie vor von den „alten“ Branchen bestritten. Und deren Konkurrenzvorteil beruht immer noch auf vergleichsweise niedrigen Löhnen.

Die Werftarbeiter beispielsweise konnten ihre Löhne in mehreren Arbeitskämpfen seit der großen Streikwelle 1987 zwar verdoppeln, ihr Lohnniveau erreicht jedoch auch heute nur 40 Prozent des Lohns ihrer japanischen Kollegen. Auch bürgt die Verlagerung auf „moderne“ Sektoren alleine nicht für höhere Löhne. Diese Erfahrung machen vor allem die in der Elektronikbranche beschäftigten Frauen, die nach wie vor mit Niedrigstlöhnen abgespeist werden.

Im vergangenen Jahr, nach zwei Jahren erfolgreicher Arbeitskämpfe und beträchtlicher Lohnerhöhungen, wurden erste Grenzen des südkoreanischen Entwicklungsmodells sichtbar: Die Werftindustrie schrieb rote Zahlen und machte dafür die Forderungen der Gewerkschaften verantwortlich. Durch die plötzliche Ausdehnung des Binnenmarktes sackten die Ausfuhren ab; das exportorientierte Entwicklungsmodell ist dadurch grundsätzlich infrage gestellt. Die ausländischen Direktinvestitionen gingen um 30 Prozent zurück - ein deutliches Indiz dafür, daß Südkorea als Billiglohnland zunehmend unattraktiv wird.

Von dem Rückzug des ausländischen Kapitals sind hauptsächlich die Arbeiterinnen der Textil- und der Elektronikbranche betroffen, die stärker als andere von ausländischen Investitionen abhängen. Sie stecken nun in dem Dilemma, sich entweder mit Lohnforderungen zurückzuhalten oder ihre Arbeitsplätze zu riskieren.

Gabriela Simon