Wer ist hier „reformiert“, wer nur „gewendet“?

Erstes Treffen der DGB-Jugend und der „Initiativgruppe Gewerkschaftsjugend“ der DDR in Bernau / Wenige, aber erschreckende Angaben über die DDR-Jugend für 1987/1988 / Handlungsanweisungen auch hier gefragter als eine Aufarbeitung der Geschichte  ■  Von Esther Dischereit

Bernau (taz) - Mit einer einigermaßen repräsentativen Besetzung trat die DGB-Jugend an, denn die meisten Jugendsekretäre der Einzelgewerkschaften waren angereist, und die politischen Spektralfarben dieses Apparats waren auch vertreten: Beim ersten gemeinsamen Treffen der DGB -Jugend (sie hatte dazu eingeladen) mit den „neuen“ Verantwortlichen der „Initiativgruppe Gewerkschaftsjugend“ der DDR am letzten Wochenende in Bernau bei Berlin.

Wer ist überhaupt die DDR-Jugend? Kaum Daten wurden erhoben, noch weniger veröffentlicht. Der DDR-Jugendpfarrer (und aktive Gewerkschafter) Frank Stolt zitiert aus Studien

-von 1987/88 (!). Danach waren 75 % der Jugendlichen, deren statistisches Alter mit 18,8 Jahren angegeben wurde, Arbeiter. Ein Drittel davon lebte in Neu- bzw. Großneubau -Gebieten. Die Mehrheit bejahte den Sozialismus als Grundform des Zusammenlebens und gab „kritischen Träumen“ als Möglichkeit zur gesellschaftlichen Integration den Vorzug gegenüber „Selbstbehauptung“, „Eigenverantwortlichkeit“, „Anpassungsbereitschaft“ bzw. „Privatisierung“. Die Befragten formulierten an erster Stelle Ängste vor Einsamkeit, gestörte zwischenmenschliche Beziehungen, Furcht vor einem Dasein als abgestumpfte Masse. An der FDJ wurde kritisiert: Der Apparat ersticke und bremse jede Eigeninitiative, führe ein Eigenleben, schütte sie mit Informationen zu. Gefühle von Ohnmacht wurden geäußert, fehlende Alternativen beklagt. Für diese Jugendlichen kamen erst an dritter bzw. vierter Stelle die Eltern als Gesprächspartner in Betracht, am wenigsten jedoch für Themen wie Liebe, Sexualität, persönliche lebensgestaltung, Partnerschaft. Selbst kirchlich orientierte Jugendliche zeigten kaum Distanz zum Sozialismus als gesellschaftlicher Grundform, kritisierten aber die Intoleranz des wissenschaftlichen Atheismus. In Beruf und Arbeit waren 60 Prozent der „Jungerwachsenen“ zufrieden. „Geld“ und „ruhiger Job“ rangierten erst am Ende der Skala. In Parteien und Organisationen sahen sie keine Handlungsmöglichkeiten, einziges Äußerungsmittel schien ihnen die DDR-übliche „Eingabe“ nach oben. Und es mag überraschen oder nicht: die von Pfarrer Stolt vorgetragenen Untersuchungsergebnisse blieben in diesem Kreis ohne jede Diskussion.

Hartmut Bechtold (Böckler-Stiftung) bezeichnete den Zusammenbruch Osteuropas als „größte Enttäuschung des 20. Jahrhunderts“, denn sie beinhalte den Abschied von der Vorstellung, daß es eine Alternative zum Kapitalismus gebe. Als Aufgaben blieben demnach: Eine demokratische und soziale Ausgestaltung dieser Kapitalgesellschaft statt Vergesellschaftung des Eigentums und staatliche Planung. Die Linke habe eine Utopie verloren, auf deren Grundlage es ihr jahrzehntelang schwergefallen sei, den realen Planwirtschaften gegenüber die gleiche Ablehnung zu vollziehen wie etwa gegenüber dem amerikanischen Monopolismus. Entwicklung eines sozialen Gegenmanagements, darum gehe es jetzt, ansonsten gelte in der Ökonomie wie in der Politik: Demokratie als die „Freiheit des Andersdenkenden“ (Luxemburg).

Auch hiergegen regte sich kein Widerspruch, und dem Gedächtnis langjähriger Moskaureisender mußte erst nachgeholfen werden. Eine Theoriediskussion war hier ohnehin nicht erwünscht, es gehe jetzt um die „praktischen Fragen des Betriebs“, um Mitbestimmung und die Rolle der Gewerkschaften. Ein Kollege aus dem Initiativkreis: „Demokratie ist, die Mehrheitsmeinung akzeptieren. Für uns ist die Idee der Ideologie im Augenblick nicht wichtig.“ Frank Stolt widersprach: „Demokratie ist eben nicht, das Recht von Mehrheiten akzeptieren. Wer hat denn die Wende gemacht? Das waren erstmal Minderheiten!“

Für alle Fälle öffneten die Vertreter der Einzelgewerkschaften der DGB-Jugend ihr Nähkästchen und plauderten von den Erfolgen ihrer Arbeit, ihrem Ansehen bei den Vorständen und den Ergebnissen aus den Tarifkommissionen. Die Jugend Ost schrieb mit. Hier ging es hauptsächlich um hauptamtliche Geschäftsstellen, Kreis- und Landesjugend, Bundesjugendrat. Wer ist - nicht nur im FDGB -Apparat - alt, wer ist neu, wer „reformiert“ und wer „gewendet“? „Die Entwicklung der Gewerkschaftsjugend schreitet langsam aber sicher voran“, sagte eine DDR -Kollegin.