Das Volk entscheiden lassen, ob es die Verfassung so will

Dr. Ernst Gottfried Mahrenholz, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, fordert Abstimmung über das Grundgesetz vor dem Beitritt der DDR  ■ I N T E R V I E W

taz: Herr Dr. Mahrenholz, Regierungspolitiker und die herrschende Staatsrechtslehre sind dafür, daß nach einem Beitritt der DDR das Grundgesetz als gesamtdeutsche Verfassung weiter gilt - und zwar genau so, wie es ist. Sie hingegen fordern, die Deutschen müßten im Zuge der Wiedervereinigung über ein - gegebenenfalls verändertes Grundgesetz abstimmen. Weshalb?

Dr. Ernst Gottfried Mahrenholz: Nun, eine Verfassung des deutschen Volkes wird das Grundgesetz - verändert oder nicht - erst nach dem Beitritt der DDR sein. Der Präambel ist dies unschwer zu entnehmen. Es scheint mir in einer Demokratie kaum etwas so natürlich zu sein wie dies, daß das Volk sich dazu äußert, ob es das Staatswesen so will, wie es die Verfassung schafft. Dies ist der erste Ausdruck der Volkssouveränität. Die jüngeren Staatsverfassungen rings um Deutschland herum sind deshalb dem Volk vorgelegt worden. Die Bayerische Verfassung hält es sogar bei jeder Verfassungsänderung genauso. Was ist also an einer Volksabstimmung nicht selbstverständlich?

Die Wahlen vom 18. März in der DDR waren ein Votum für die Wiedervereinigung in einem freiheitlichen demokratischen Staatswesen, nicht aber für das Grundgesetz, so wie es nach zahlreichen Änderungen seit 1949 jetzt gilt.

Für eine solche Volksabstimmung müßte man das Grundgesetz es sieht Plebiszite nicht vor - ändern. Eine für diese Änderung notwendige Zweidrittelmehrheit der Bundestagsabgeordneten würde sich nicht finden. Wie kann man also überhaupt zu so einem Plebiszit über eine gesamtdeutsche Verfassung kommen?

Ein Votum des Volkes zur Verfassung bräuchte kein rechtsverbindlicher Volksentscheid zu sein. Gegen einen solchen richten sich die meisten Bedenken, vor allem deshalb, weil ein verbindlicher Volksentscheid auch die nach Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes nicht abänderbaren Teile der Verfassung dem Volk mit der Möglichkeit eines „Nein“ zum Entscheid vorgelegt werden. Diese Bedenken lassen sich dadurch beheben, daß die Abstimmung als rein politisches Votum des Volkes ausgestaltet wird. Wenn zwischen beiden deutschen Staaten Klarheit über den künftigen Text des Grundgesetzes auch in Einzelheiten besteht, könnte vor der Abstimmung des Bundestages über entsprechende Änderungen des Grundgesetzes das Volk im Wege einer Abstimmung gefragt werden, ob es das Grundgesetz in der verabredeten Fassung will. Natürlich hat das Ergebnis der Abstimmung politisches Gewicht. Aber die rechtliche Verbindlichkeit, an der sich eine Reihe von Wissenschaftlern und maßgebenden Politikern stören, fehlt ihm. Wer meint, schon eine solche Abstimmung sei nicht zulässig, hat es nicht ganz leicht, die Verfassung im Sinne dieser Auffassung zum Sprechen zu bringen - auch deshalb, weil nach der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts das Wiedervereinigungsgebot die Verfassung selbst auslegt. Im übringen: Ich schlage vor, daß die DDR für ihren Beitritt die Bedingung aushandelt, daß vorher über die Verfassung abgestimmt wird.

Auch wenn sie nicht rechtsverbindlich wäre, käme für eine solche Abstimmung hierzulande keine politische Mehrheit zustande...

Hierzulande haben wir seit der November-Revolution in der DDR immer wieder Ansatzpunkte für mehrheitsfähige Entscheidungen erlebt, die im November und den folgenden Monaten durchaus nicht selbstverständlich waren. Hier hängt einiges auch von der Opposition und ihren Einflußmöglichkeiten im Bundesrat ab.

Es müßten aber die Bevölkerung der DDR und die der Bundesrepublik getrennt abstimmen?

Natürlich. Andernfalls würde das deutsche Volk in der DDR vom deutschen Volk in der Bundesrepublik majorisiert. Das Quorum scheint mir auch klar: Mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten müßte in beiden deutschen Staaten zustimmen.

Sie sprechen immer von der notwendigen Abstimmung über das

-gegebenenfalls geänderte - Grundgesetz. Finden Sie, das Grundgesetz sollte geändet werden?

Ja. Volksbegehren und Volksentscheid sollten in das Grundgesetz aufgenommen werden. Im übrigen meine ich, daß man auch Wünschen in der DDR, bestimmte Staatszielbestimmungen in die Verfassung zu schreiben, entgegenkommen sollte.

Früher waren Sie - wie heute noch die meisten Verfassungsrechtler - gegen Volksabstimmung und Volksentscheid.

Nicht ganz. Für den Volksentscheid bin ich schon vor Jahren auch in einem veröffentlichten Vortrag eingetreten. Was Volksabstimmungen anbelangt, hatte ich Zweifel, ob das Grundgesetz sie zuläßt. Da ging es aber nicht um einen Aspekt, wie den eben erörterten.

Die Notwendigkeit eines Volksentscheides ist mit einem Satz diese: Das Volk muß die Möglichkeit haben, sich dort zu artikulieren, wo die Politiker entweder keine Priorität oder keine Probleme sehen. Ob etwas in einem Parteiprogramm steht, sagt ja nichts darüber aus, ob in der betreffenden Wahlperiode auch etwas im Sinne des Wahlversprechens geschieht. In einem freiheitlichen Gemeinwesen muß die vielberufene Mündigkeit des Volkes einschließen, daß es politische Fragen zur Debatte und gegebenfalls zur Abstimmung stellt. Abgeordnete - ich spreche da aus Erfahrung - sind nicht klüger als das Volk. Sie sind lediglich im politischen Betrieb erfahrener. Die Wahl ist keine Weihe zu höheren Einsichten, die dem Volk verschlossen sind. Wo Landesverfassungen Plebiszite vorsehen, hat es sich im Erfolgsfalle stets um ziemlich vernünftige Entscheidungen gehandelt. Natürlich muß man sich auch vorstellen, daß das Volk möglicherweise „falsch“ entscheidet. Diese Möglichkeit teilt es mit Regierung und Parlament.

Was bringt es eigentlich, ein Recht auf Arbeit oder auf Wohnung oder auf eine gesunde Umwelt in der Verfassung zu verankern, wenn all dies nicht einklagbar sein soll?

Solche Staatszielbestimmungen präzisieren das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes. Sie verstärken das politische Gewicht eines Themas und können in der Auslegung des Sozialstaatsprinzips - unter anderen durch das Bundesverfassungsgericht - eine wichtige Maßgabe sein. Das ist viel, wenn man daran denkt, daß das Grundgesetz nicht die Politik im Detail vorprägen will, sondern Wahlkampf, Wahlentscheidung und Regierungspolitik das ihr zukommende Gewicht läßt.

Ein Beispiel: Die Aufnahme solcher Staatszielbestimmungen kann den Staat natürlich nicht verpflichten etwa eine Wohnung für jemand zu bauen, der kommt und sagt, ich habe keine Wohnung. Aber sie kann das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes so präzisieren, daß die Regierung eines Landes viel deutlicher verpflichtet ist, für ausreichenden Wohnraum zu sorgen.

Die zahlreichen Gegner einer Änderung des Grundgesetzes würden ihnen jetzt folgendes entgegenhalten: Erstens kann das Grundgesetz besser nicht werden. Zweitens würde die notwendige breite öffentliche Diskussion über Modifizierungen der Verfassung zuviel, derzeit knappe Zeit kosten. Was sagen Sie dazu?

Daß das Grundgesetz die beste aller deutschen Verfassungen ist, ist gewiß. Aber diese Gewißheit sollte keine Begründung für Trägheit sein, wenn es darum geht, „eine Verfassung für alle“ zu schaffen. 35 Mal ist das Grundgesetz geändert worden. Es aus Anlaß der Vereinigung ein 36. Mal zu ändern, ist eher natürlich, als anspruchsvoll. Solche Veränderungen zu verabreden, kostet gewiß keinen zusätzlichen Aufwand an Zeit, sondern an Organisation ohnehin laufender Diskussionsprozesse zwischen Ost und West.

Interview: Ferdos Forudastan