„Jetzt wollen wir noch ein bißchen bleiben“

■ Berlin multikulturell: Ein Besuch bei den Sinti und Roma im Tiergarten und am Funkturm / Auf große Tour geht's nur noch wenige Wochen im Jahr / Alle sind „ganz normale Bundesbürger“ - und wollen am liebsten in Ruhe gelassen werden

West-Berlin. Auf 800 bis 1.000 schätzt Lollo die Zahl der westdeutschen Sinti und Roma mit bundesrepublikanischem Paß, die momentan in Berlin versammelt sind - genau weiß er es nicht. Jeden Tag kommen neue Wohnwagen hinzu, und und Familien reisen ab. Sie lassen sich im Tiergarten nieder oder auf dem Oktoberfestgelände unter dem Funkturm. Mit den Sinti- und Roma-Flüchtlingen aus Osteuropa haben sie nichts zu tun. Lollo ist in Düsseldorf zu Hause, und mit seiner Familie unterwegs auf ihrer alljährlichen Tour durch Deutschland, drei bis vier Monate lang, den Sommer über. Vor den Toren Berlins haben die Zigeuner - so nennen sie sich selbst - drei Tage und drei Nächte lang eine Hochzeit gefeiert. Mit sämtlichen über die BRD verstreuten Verwandten und Anverwandten. Die meisten kommen aus dem Kohlenpott.

„Jetzt wollen wir noch ein bißchen hierbleiben“, sagt Lollo, „vielleicht eine Woche lang“. „Zwei oder drei Wochen“, sagen andere Männer. Ebenso unklar ist das nächste Reiseziel: Ob es nach Osten oder Westen geht, entscheidet der „Chef“, und der ist irgendwo unterwegs. Eigentlich wollten die Roma zuerst gar nichts von sich erzählen. „Mit Leuten, die was von uns wollen, haben wir schlechte Erfahrungen gemacht“, erklärt Lollo - deshalb die aggressive Abwehr Fremden gegenüber. „Hau ab hier!“, hatten die wie Prinzessinnnen herausgeputzten kleinen Mädchen gerufen, nachdem sie bltzschnell, aber erfolglos ihr Ritual: „Handlesen zwei Mark! Nein? Gib mir eine Zigarette! Nein?“ abgespult hatten. „Außerdem sind wir keine Exoten, wir sind Deutsche“, stellt ein Mann klar, der sich als ein „Sprecher“ der Roma bezeichnet und kramt seinen Ausweis hervor. Die anderen tun es ihm gleich. Die Angst, ohne deutschen Paß nichts zu gelten, sitzt tief.

Vom urprünglichen Platz am Spreebogen hinter dem Reichstag vertrieben (der benachbarte Zirkus hatte sich beschwert), stehen die 40 bis 50 Wohnwagen der Tiergartener Roma jetzt auf der gegenüberliegenden Seite der Entlastungsstraße. Dort, auf grüner Wiese zwischen Bolzplatz und Spree, ist genug Platz vorhanden; was fehlt, ist Wasser.

„Schreiben Sie“, sagt der Sprecher, „daß das Wandern in unserem Leben drinsteckt. Aber es geht zurück, wir werden seßhafter, leider!“ Ein Indiz dafür ist das Dutzend Mietwohnwagen auf dem Gelände am Funkturm. Die Familien sind vom luxuriös ausstaffierten Zehn-Meter-„Tabbert“ auf gemietete Wohnmobile umgestiegen. Die Riesen-„Tabberts“ „mein Bungalow“, sagt stolz ein Roma - werden sorgfältig geputzt und gewienert.

Wovon die Roma und Sinti leben während der Sommermonate? „Wir haben alle Arbeit“, sagt der „Sprecher“. „Schreiben Sie: Wir sind ein Volk von Handwerkern, von Kupferschmieden und Korbflechtern, aber schreiben Sie ruhig: Wir verkaufen auch Teppiche, jawoll!“ Das Teppichgeschäft reiche zum Leben. „Quatsch“, widerspricht grinsend ein Junge. „Nicht meinem schlimmsten Feind würde ich das wünschen.“

Über Probleme an deutschen Haustüren will der Junge nichts erzählen. „Schreiben Sie“, sagt der „Sprecher“ laut, „daß die Deutschen im Westen 100 Prozent okay sind und die im Osten 50 Prozent. Die Alten im Osten, die haben Verständnis für uns“. - „Deutschland - alles Scheiße!“ fährt eine alte Frau dazwischen, die vor ihrem Wagen saß, kochte und böse Blicke zu der Besucherin herübergeworfen hatte. „Oma kann Buchenwald nicht vergessen“, entschuldigt sie der „Sprecher“.

Geschichten über tätliche Angriffe auf Roma und Sinti, so wie sie hier in den Zeitungen zu lesen waren, will er nicht bestätigen. Die Jungen sagen dazu nur: „Wir haben keine Angst. Wir sind viele.“

Barbara Wollborn