Frustschutz gegen Post-Moderne

■ 1.Europäische Briefzusteller-Meisterschaften zeigten den unbekannten Postler: verschwitzt, ehrgeizig und umjubelt

Kreuzberg (taz) - Nur noch drei Relikte verbinden das High -Tech-Unternehmen Deutsche Bundespost mit seinen traditionellen Wurzeln: der lahmarschige Schalterservice, die markerschütternden Sangesbeamten des „Naabtal Duos“ sowie die „Briefzusteller-Meisterschaften auf Dienstfahrrädern“ am Kreuzberg. Über 50 Menschen des austragenden Gewerbes trafen sich am Pfingstsonntag, um ihre 8. Deutsche sowie erstmalig eine Europameisterschaft durchzuführen.

Vor dem Start herrschte gespannte Nervosität. „Das Rennen hat in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen“, ortete Öffentlichkeitsarbeiter Ronald von Dultzig. Zehnmal mußte die zwei Kilometer lange Rundstrecke zurückgelegt werden. Derart gewissenhaft fielen die Startvorbereitungen aus. Mit einem Bier füllte man den Schweißvorrat auf, ein Postler lockerte sich versonnen am „Beamtenexpander“, sprich: Ringgummi, auf. „Was soll man von denen schon erwarten“, rülpste ein Kreuzberger Bierpinsel, „man ist ja schon froh, daß sie überhaupt was tun“. Doch dann strafte das Rennen alle Lügen.

Auf ihren gelben Dienstfahrrädern Marke „Vaterland“, ohne Gangschaltung und in der Damenversion, spurteten die Postboten in den Kurs. Wer geglaubt hatte, die Beamten würden bergauf bremsen und bergab ängstlich aus dem Sattel springen, sah sich gewaltig getäuscht. Mit leistungsverzerrten Gesichtern umkurvten die Pedaleure ausdauernd den schwierigen Kurs. Selbst die dickbäuchigsten Zusteller erschraken nicht, als eine für sie unbekannte Flüssigkeit die Stirn hatte, sich auf derselben zu zeigen. In der Tat: Schweißgeruch machte sich breit, die Zuschauer witterten eine Sensation und brachen in tosenden Applaus aus. Kenner der Postgeschichte fühlten sich unweigerlich an bedeutendere Epochen der Briefzusteller erinnert. An den Heiligen Bonifatius etwa, der die Message eines Papstes GregorII. zu den Heiden trug. Oder an jene Reiter des Mittelalters, die den Siegeslorbeer durch die Lande zogen.

Wahrlich, es muß ein Gefühl der Verbundenheit mit glorreichen Ahnen gewesen sein. Viele Starter schaufelten ihren postalischen Urwunsch frei, fern aller Tarife und Frusterlebnisse Leistungen zu zeigen. Auch wenn die Waden quietschten, als ob sie altägyptische Tontafeln bewegen müßten, es wurde verbissen gekämpft.

Unter orkanartigem Beifall setzte sich zwei Runden vor Schluß der Schweizer Uli Zimmerli mit einem gewaltigen Zwischenspurt an die Spitze und gab sie auch nicht mehr her. Deutscher Meister wurde der Rangzweite, Herbert Högen aus Nürnberg. Bei den Frauen nahm Andrea Koltz den deutschen und europäischen Meistertitel mit nach Stuttgart. Eigentlicher Gewinner der Veranstaltung war jedoch der abwesende Postminister Schwarz-Schilling. Er ließ sich aus einem Auto heraus das Rennen auf Video bannen. Die Aufnahmen dokumentieren eine weit höhere Belastbarkeit der Beamtenschaft, die Gewerkschaft sollte sich warm anziehen. Die Briefzusteller in Kreuzberg kümmerte dies wenig. In einer nahegelegenen Brauerei ließ man das Rennen bei Gerstenkaltschale und Bayrisch Coffee nochmals Revue passieren. Und wiederum floß der Schweiß in Strömen.

Jürgen Schulz