Staatskunst und Bürgerkunst

Zehn Thesen von Timothy Garton Ash zum neuen Europa  ■ D O K U M E N T A T I O N

1. Der Niedergang des Russischen Imperiums ist Grundursache der epochalen Veränderungen in Europa. Dieser Niedergang wird nicht einfach an den historisch zufälligen Grenzen der Sowjetunion haltmachen, von denen uns die nicht-russischen Völker des Baltikums, des Kaukasus und Zentralasiens schon erzählen, daß sie nur die Trennlinie zwischen äußerem und innerem Imperium markieren. Möglicherweise hat der Westen gute taktische Gründe, zu diesem besonderen Zeitpunkt Vorsicht in seiner Unterstützung für die baltischen Unabhängigkeitserklärungen walten zu lassen; aber es wäre völlig falsch, für die Planung Europas im Jahr 2000 das Fortbestehen der Sowjetunion als Einheit anzunehmen. Es wäre moralisch und auch analytisch falsch.

2. Zu Gorbatschow gibt es in der russischen Politik viele schlechte Alternativen. Es gibt aber auch gute, beispielsweise in den neuen nichtkommunistischen politischen Bewegungen und Parteien, welche in etwa die Prinzipien der freiheitlichen Demokratie, der sozialen Marktwirtschaft und der Rechtsstaatlichkeit anerkennen. Momentan sieht es so aus, daß eher die schlechten Alternativen die Oberhand gewinnen werden. Gorbatschow ist daher das kleinere Übel. Aber die Ereignisse von 1989 in Osteuropa sollten denen, die uns im Namen eines „Realismus“ unsere eigenen Prinzipien und Gewißheiten verleugnen lassen würden, eine Warnung sein. Denn hier wurde das Unmögliche wahr.

3. Immanuel Kant war am Ende des achtzehnten Jahrhunderts der Meinung, daß nur solche Staaten, deren „bürgerliche Verfassung“ eine „republikanische“ sei, nicht notwendigerweise früher oder später miteinander Krieg führen würden - also Staaten mit Machtbeschränkung der Regierung, mit Rechtsstaatlichkeit, und mit Königen, die Philosophen wie ihm zuhören. Die Einsicht bleibt eine grunsätzliche. Um sie in der Sprache des zwanzigsten Jahrhunderts audzudrücken: Freiheitliche Demokratien kämpfen nicht gegeneinander. Als Schriftsteller hat Vaclav Havel das Kantsche Prinzip für sein eigenes Land formuliert, und als Präsident exemplifiziert er es. Der Wandel im äußeren Verhalten der Tschechoslowakei, Polens und Ungarns folgt direkt aus ihrer inneren Transformation. Er unterscheidet sich daher vom sowjetischen Wandel, ist auch weniger umkehrbar. Die einzig grundsätzliche Garantie eines Wandels in der sowjetischen Außenpolitik wäre die innere Transformation des russischen Staates und Imperiums.

4. Glücklicherweise ist dies nicht unsere einzige Hoffnung. Am Ausgang des zwanzigsten Jahrhunderts gibt es einen anderen, der Kantschen Philosophie unbekannten Grund, warum Staaten Kriege vermeiden sollten: Sie können sich gegenseitig auslöschen. Die Entwicklung militärischer Technologie erlaubte der nach Raymond Aron „ewigen Rivalität der Staaten“ zunächst, im „Jahrhundert infernaler Maschinen“ unbeschreibliche Schlächtereien anzurichten. Aber ihre weitere Fortentwicklung hat dieser Rivalität einen Riegel vorgeschoben. Seit 1945 gab es außereuropäische Kriege zwischen oder gegen Staaten ohne glaubwürdige Abschreckung. In Europa gab es militärische Invasionen in Staaten ohne solche Abschreckung - so Ungarn 1956 oder die Tschechoslowakei 1968. Aber wo glaubwürdige Abschreckung vorhanden war, gab es keinen Krieg.

Natürlich ist dies in vielerlei Hinsicht ein scheußlicher Zustand: eine erschreckende zweitbeste Lösung. Wir sollten nie aufhören, neue Formen der Vertrauensbildung, gegenseitiger Überwachung und internationaler Regulation zu erkunden. Wir sollten die Zielvorstellung der freiheitlich -demokratischen (Rooseveltschen, aber davor Kantschen) Vision einer Welt der Republiken, die auf einer Weltbürgergesellschaft gründet und sich mittels einer Weltregierung selbst reguliert, nicht aufgeben. Und sogar wenn Rußland eine Republik im Kantschen Sinne wäre, wären manche Nachbarstaaten zu Europa - z.B. Iran, oder Libyen es nicht. So brauchten wir auch dann die infernalen Maschinen.

5. Das demokratische Europa sollte daher Kant in der einen und die Abschreckung (von welcher Größe und Art auch immer) in der anderen Hand halten: erstere als Vision des Guten in Völkern und Staaten, letztere für die Möglichkeit des Gegenteils. Die Hauptverkörperung des letzteren Prinzips nennt sich Nato. Finge man jetzt aus dem Nichts neu an, würde es vielleicht nicht Nato heißen. Man könnte es zum Beispiel Deto nennen (Democratic Europe Treaty Organisation). Man könnte auch meinen, daß große europäische Demokratien sich selbst verteidigen sollten, mit einer gemeinsamen Abschreckung.

Sicher hängt die Sicherheit Westeuropas nunmehr letzendlich von der nuklearen Verpflichtung der USA ab, da sich in diesem Jahrhundert die Europäer zweimal (manche würden sagen, dreimal) außerordentlich unfähig erwiesen, sich zu verteidigen und miteinander zu vertragen. Aber das ist kein eisernes Naturgesetz.

6. „Das einzige was mich an der Nato stört, ist, daß wir kein Mitglied sind.“ Diese charakteristische Bemerkung des tschechoslowakischen Außenministers Jiri Dienstbier enthält eine tiefere Wahrheit. In ein oder zwei Jahren wird es einem Besucher vom Mars sehr seltsam erscheinen, daß eine Demokratie im Herzen Europas nicht die Nato-Mitgliedschaft besitzt, die Türkei aber doch. Tschechen und andere sehen sich dann geneigt, in Abwandlung von Marx (Groucho) zu sagen: „Ich würde jeden Klub abschaffen, dem ich nicht beitreten kann.“ Die Alternative, vom ungarischen Ex -Außenminister Gyula Horn in Aussicht gestellt, ist, zu sagen: „Laßt uns bitte rein.“ Und warum eigentlich nicht? Weil die Sowjetunion es nicht haben will? Siehe Punkt eins und zwei. Doch wenn man lediglich den Beitritt mittel- und osteuropäischen Staaten erwägt, sieht die Allianz - Nato oder Deto - weiterhin singulär anti-sowjetisch oder anti -russisch aus und weniger wie eine Selbstverteidigungsgemeinschaft der Demokratien gegen jeglichen Angreifer. Nein, um Konsistenz zu bewahren, muß man letztendlich auch den Beitritt eines demokratischen Rußlands zu dieser Deto erwägen - und das wird bestenfalls noch viele Jahre dauern.

7. Wenn der Ausgangspunkt für die europäische Sicherheit Nato heißt und das Ziel Deto, ist für die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen der alten und neuen europäischen Demokratien untereinander der Ausgangspunkt die EG, und auch hier ist das Ziel größer. Die gegenwärtige EG ist die schlechtestmögliche Variante Europas - abgesehen von allen anderen Europas, die ausprobiert worden sind. Vor kurzem wiederholte der polnische Außenminister Skubiszewski in Oxford den gängigen Standpunkt der neuen demokratischen Führungen in Osteuopa: die EG ist Kern des europäischen Vereinigungsprozesses.

8. Als Harold Nicholson während des Zweiten Weltkriegs auf den „Friedensprozeß“ von 1919 zurückblickte, schrieb er: „Wir erreichten die Balkanisierung Europas, aber auch die Europäisierung des Balkans.“ In einem breiteren Sinne könnte man die heutige Wahl ebenfalls als eine zwischen diesen beiden Alternativen beschreiben („Balkan“ im Sinne des gegenwärtigen oder möglichen Zustands des Nicht-EG-Europas, nicht als genaue geographische Ortsbeschreibung). Zu den Grundbedingungen einer solchen Europäisierung des Balkans gehören die Anerkennung bestehender Staatsgrenzen (und der Republikgrenzen innerhalb der Sowjetunion), wie zufällig oder ungerecht sie auch sein mögen; gemeinsame, hohe Standards der Respektierung von Minderheitenrechten innerhalb dieser Grenzen; und eine langfristige Perspektive immer festerer Assoziierung mit der existierenden EG, pari passu mit interner Demokratisierung, Marktorientierung und Verfassungsrechtlichkeit, auf dem Weg zur Vollmitgliedschaft.

9. Die größte Herausforderung für das Europa der nächsten Jahre liegt vielleicht nicht in den zwischenstaatlichen Beziehungen, sondern in denen zwischen Völkern innerhalb von Staaten. Rassische Spannungen werden mit großer Sicherheit durch die sozialen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten des europäischen Einigungsprozesses verstärkt. Dies trifft nicht nur für das frühere Osteuropa und die Sowjetunion zu, sondern auch für den Rest Europas, besonders für Deutschland. Genauso oder sogar mehr als Staatskunst wird dann das gefordert sein, was man Bürgerkunst nennen könnte.

10. Wir sollten nicht den Maßstab verlieren. Der große Rest der Menschheit wird (zu Recht) sagen: „Wenn wir nur eure Probleme hätten...“

Gekürzt aus 'New York Review‘. Der englische Autor ist Experte für Ost- und Mitteleuropa. Übersetzung: Dominic Johnson