Das Konsumparadies

Was ist eigentlich Marktwirtschaft? (11.Teil)  ■ 1*1 DER MARKTWIRTSCHAFT

Kommen wir zum Allerheiligsten der Marktwirtschaft: zum Tempel des Konsums, zu den Altären der bunten Warenwelt, wo das freie Spiel von Angebot und Nachfrage, von unverbrauchter Kauflust und frischem Unternehmergeist wahre Wunder an Flexibilität, Produktinnovation und stetigem Waren(über)fluß vollbringt. Darf hier überhaupt noch gelästert werden? Sprechen die Konsumenten-Revolutionen in den noch-nicht-marktwirtschaftlichen Ländern mitsamt ihrer traurigen Geschichte von chronischen Versorgungsmängeln und stetigem Verdruß für Käufer und Käuferinnen nicht für sich und gegen jegliches Herumnörgeln am Konsumparadies Marktwirtschaft?

Dennoch sei hier der zarte Hinweis erlaubt, daß der Markt in bezug auf menschliche Bedürfnisse vollkommen blind ist und obendrein gleichgültig. Wer vom Markt abhängt und kein Geld hat, der verhungert. Aber auch mit Geld haben die Bedürfnisse auf dem Markt nur dann eine Chance, wenn sie in Geld meßbar und durch Waren zu befriedigen sind. Bedürfnisse, die sich nicht in Mark und Pfennig ausdrücken lassen (z.B. das Bedürfnis nach frischer Luft) werden vom Markt nicht wahrgenommen.

Umgekehrt gründet sich die Marktwirtschaft auf der Existenz von Bedürfnissen, die nur durch Waren zu befriedigen sind. Wirtschaftlich autarke Gruppen, seien es Bauernfamilien, Dorfgemeinschaften oder gemeinwirtschaftliche Gesellschaften, sind für die Marktwirtschaft eine Barriere, die es zu überwinden gilt. Historisch entstand die Marktwirtschaft durch Prozesse der Enteignung: der Raub des Gemeindelandes traditioneller Dörfer und der Ruin selbstversorgender Bauern waren gewaltsame Prozesse, in denen die Grundlagen der Marktwirtschaft gelegt wurden. Die Menschen mußten ihrer Selbsterhaltungsfähigkeit zuerst beraubt werden; sie wurden erst in diesen Prozessen zu bedürftigen Wesen, die durch den Markt versorgt werden müssen.

Und schließlich waren es gerade die allseits gerühmten Segnungen der Marktwirtschaft - die stetige Suche nach Marktlücken, der Zwang zur ständigen Expansion und Innovation - die die Bedürftigkeit der Menschen konsequent weiterentwickelten. Lange genug durch die Mühle der Lohnarbeit gedreht, haben sie es auch verlernt, selbst ihre einfachsten materiellen und kulturellen Bedürfnisse selbst zu befriedigen. Der Mensch wurde als Konsument neu erschaffen. Er zahlt jetzt Geld für Waren, die er braucht: für Hifi-Anlagen und CD-Player, für Videorecorder und Pornofilme, für Psychotherapien und... ach! Die historische Wahrheit des Konsumparadieses Marktwirtschaft? Es hat die Menschen eines großen Teils ihrer Fähigkeiten beraubt und sie zu allseits bedürftigen Konsumenten entwickelt.

Gabriela Simon