„VS geheim“: 65 AL-Akten ins Landesarchiv?

■ Verfassungsschutz-Chef hat keine Bedenken / Datenschutzbeauftragter: Persönlichkeitsschutz und öffentliches Interesse abwägen

Berlin. Die Männer mit Lodenmänteln und versteckten Richtmikrophonen müssen die Zähne zusammenbeißen: Die Alternative Liste will das vom Verfassungsschutz über sie gesammelte Wissen in ein Archiv überführen, daß der Öffentlichkeit zugänglich ist. Müßte das Landesamt für Verfassungsschutz in Dahlem tatsächlich die 65 Ordner voller Informationen über die damaligen Oppositionsabgeordneten herausgeben, dann wäre zu klären, wie den in den Akten erwähnten Personen das Recht auf „ihre“ Daten gewährleistet werden könnte. Dies war nicht die einzige Frage, die die Teilnehmer des Hearings am vergangenen Mittwoch abend unter dem Motto „Archivieren oder vernichten?“ im Schöneberger Rathaus interessierte. Doch bekommt man die Akten überhaupt aus dem Bunker des Verfassungsschutzes heraus?

Der Chef aller Wanzenleger von Dahlem, Heinz Annußek, ist der AL-Forderung gegenüber gar nicht so zugeknöpft: „Wenn die Akten ins Landesarchiv kommen sollen, ist uns das auch recht“, erklärte er der taz (die einst genauso wie die AL Objekt der Staatsschnüffler war) auf Anfrage. Momentan müsse er aber nicht mehr benötigte Akten vernichten, wie es der Gesetzgeber vorsehe, meinte Amtsleiter Annußek weiter. Die Vernichtung der begehrten AL-Meterware hatte das Parlament allerdings bis auf weiteres untersagt. Bei dem von der AL veranstalteten Hearing waren sich alle Teilnehmer, ob nun von der Senatskulturverwaltung, dem Datenschutzbeauftragten, der „AG Bürgerrecht und Polizei“ oder dem Landesarchiv, einig, daß die 65 Akten über die Alternative Liste der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden müssen.

Jochen Stark vom Zentralinstitut für wissenschaftliche Forschung (Archiv des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes und des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands) erhofft sich von den Akten Aufschluß über das Entstehen der parlamentarischen Basisbewegung und lobte in diesem Zusammenhang die „hervorragende Arbeit des Landesamtes für Verfassungsschutz“ - vielleicht zu voreilig.

Denn Lena Schraut, sicherheitspolitische Sprecherin der Alternativen Liste, mußte den Archivar enttäuschen. Bei der Durchsicht von Akten fiel ihr auf, daß sie „nicht ordentlich geführt“ worden seien und daß der Inhalt von einer „jämmerlichen Banalität“ zeuge.

Schlechte Aktenführung und unerheblicher Inhalt in den AL -Akten und Akten anderer Gruppen und Personen waren auch Kritikpunkte in dem jüngst vorgelegten Bericht des Datenschutzbeauftragten (siehe auch Kasten auf dieser Seite). Die Verfassungsschützer hielten zum Beispiel auf Papier ein Gespräch zweier AL-Frauen fest, die sich darüber unterhielten, ob „man in der derzeitigen politischen Situation“ Kinder kriegen könne. Als Schraut den Vermerk las, wußte sie „sofort, wer gemeint war“. Doch nicht immer sind die Vermerke folgenlose Anekdoten. Denn wer im Staatsdienst oder in „sensiblen Bereichen“ der Industrie arbeiten möchte, muß sich eine „Sicherheitsüberprüfung“ gefallen lassen. Und wer sich im klebrigen Netz des Verfassungsschutzes verfangen hat, hat schlechte Bewerbungschancen.

Claudia Schmid, Pressesprecherin des Datenschutzbeauftragten, bemängelte auf dem Hearing eine für Dritte uneingeschränkte Verfügbarkeit der Personenakten. Ohne ein entsprechendes Archivgesetz, daß in Berlin zwar seit fünf Jahren in Vorbereitung, aber eben nicht verabschiedet ist, sei weder ein Zugang zu solchen Akten noch die Verwendung der enthaltenen Daten geregelt. Es müsse aber eine „ordnungsgemäße Abwägung zwischen dem Schutz der persönlichen Daten und dem Forschungsinteresse“ geben, forderte Schmid. Sie schlug vor, bis zur gesetzlichen Regelung ein „Zwischenarchiv“ einzurichten: „Niemand kann an die Daten heran, wenn der Betroffene es nicht will.“

Davon einmal abgesehen - sollten demnächst das in Schubladen wartende Archivgesetz beschlossen werden und die 65 AL-Akten tatsächlich in die 65 Kilometer Unterlagen des Landesarchivs in der Kalckreuthstraße (30 Mitarbeiter) eingereiht werden, könnte dieser Vorgang für die Ostberliner Stasi-Akten Vorbild sein. Bisher gibt es allerdings in Ost -Berlin kaum jemanden, der Stasi Akten erhalten möchte. Die Mehrheit schreit nach Vernichtung der Akten. Lena Schraut glaubt allerdings, daß es „ein Trugschluß“ sei, wenn Bürger glauben, mit der Vernichtung von Akten könne die Vergangenheit bewältigt werden.

Dirk Wildt