Kumpel und tanzende Studenten in Bukarest

■ Die Bergarbeiter fühlten sich als Retter der öffentlichen Ordnung / In der Vorstellung vermischen sich Schwarzmarkt, Prostitution und Studentenprotest

Aus Tirgu Jiu Gregor Mayer

Kohlerevier Rovinari - zwanzig Kilometer südlich der Kreishauptstadt Tirgu Jiu, im unteren Abschnitt des Schiltals. Auch von hier rollten in der Nacht zum 14.Juni die Sonderzüge mit Bergarbeitern nach Bukarest, um den „ungewaschenen Studenten“ auf dem Universitätsplatz zu verdeutlichen, daß die Kumpel keine Anschläge auf die „Demokratie“ zu dulden bereit sind.

Wie eine klaffende Wunde wirkt der Braunkohletagbau in der sanft gewellten Landschaft. In die angrenzenden Hügel sind Stollen getrieben worden, um auch dort die heizwertarme Lignit-Kohle zu fördern. Zur Stromgewinnung wird damit die „Thermozentrale“ beschickt - drei monströse Kraftwerksblöcke made in GDR.

Bizarre Geschichten ranken sich um die mächtige Energiezentrale. Oft schlägt das Herz des Reviers nur stockend, denn die DDR, so wird erzählt, liefert schon längst keine Ersatzteile mehr. Nur mit viel Improvisationsgeschick sind die Reparaturen zu bewerkstelligen. Fiel ein Störfall gerade in die Zeit eines Ceausescu-Besuchs, so verheizte man flugs Stoffetzen: Begeistert betrachtete der Conducator den stickigen Qualm vermeintlicher Produktivität. Doch ihren Höhepunkt erreichte die Kunst der realsozialistischen Fiktion im Projekt der gigantischen „Hydrozentrale“, die sich der „Thermozentrale“ zugesellen sollte. In den 70er Jahren war sie bereits auf allen Landkarten als der größte Stausee Südosteuropas verzeichnet, doch das Vorhaben wurde nie realisiert. Zwar wurden drei Dörfer plattgewalzt, erhielt die Bukarester Ministerialbürokratie Millionen von Berichten, die den planmäßigen Fortgang der Arbeiten - bis hin zu Statistiken über Arbeitsunfälle - dokumentierten, doch das bereitgestellte Baumaterial war ganz einfach verschwunden. Gestohlen und verschoben, kein Mensch weiß mehr, wohin. Vom fiktiven Stausee kündet nur mehr das Bassin, das langsam vom Auwald überwuchert wird.

Die Kumpel von Rovinari leben in Wohnblocks, die nicht einmal zehn Jahre alt sind und aussehen, also ob sie in zehn Tagen einstürzen werden. Das heimelige Fertigbeton-Weiß ist schon längst einem rußigen Grau gewichen. Zwischen den Blocks eine hofartige Fläche, die wohl noch nie begrünt war; die Kinder haben ihre Freude daran, den Unrat in dem riesigen Müllcontainer in Brand zu setzen.

5.000 bis 6.000 Lei - das entspricht etwa zwei rumänischen Durchschnittslöhnen - verdienen die Kumpel aus dem Schiltal als Grundlohn, verrät mir Constantin Opacea, Vertrauensmann der Gewerkschaft. Durch Zulagen und Überstunden könne man monatlich auch auf bis zu 9.000 Lei kommen. Es stimme aber nicht, daß sich Iliescu die Sympathien der Bergarbeiter durch Lohnerhöhungen erkauft habe. Vielmehr habe die Regierung nach der Revolution nur jene Zusatzleistungen und Vergünstigungen wieder eingeführt die überall auf der Welt im Bergbau üblich, unter Ceausescu aber gestrichen worden seien.

Unser Gespräch findet in einer behelfsmäßig als Büro eingerichteten Hütte, gleich am Eingang zu den Stollen, statt. Der Bergmann Ion Trencovici, Vater von vier Kindern, seit 15 Jahren unter Tage beschäftigt, ist einer von denen, die am 14.Juni in Bukarest dabei waren. Die Situation bereitet ihm sichtlich Unbehagen, nur sehr umschweifig vermag er seine Beweggründe in Worte zu fassen. Zunächst schimpft er auf die Chefs der Grube: Das seien „immer noch die gleichen Kommunisten wie früher“. „Unter Ceausescu hatten wir 56 Meter als Planvorgabe, jetzt sagt man uns, wir schmeißen euch raus, wenn ihr nicht mindestens 82 schafft“, beklagt er sich. Nach Bukarest sei er gefahren, „um die Regierung zu schützen und unsere Freiheit“. Gewundert habe ihn allerdings, daß auch der Grubenchef, „der Kommunist Patrascu“, mitgekommen sei.

In diesem Moment fliegt auch schon die Tür auf, Patrascu steht leibhaftig vor uns. „Sie sind von der Presse? Wer hat Sie überhaupt in mein Büro gelassen? Haben Sie eine Genehmigung? Sie befinden sich hier auf Betriebsgelände!“ schreit er mit aufgeregter Stimme. Ein antrainierter Reflex läßt ihn zum Telefon greifen - „das ist ein Fall für die Polizei“ - doch der Apparat funktioniert nicht.

Wir setzen das Gespräch draußen im Wagen fort. Trencovici kam also mit ein paar Kumpel, die er am Bukarester Nordbahnhof kennengelernt hatte - Erkennungszeichen war die Grubenlampe -, am Universitätsplatz an. Dort seien sie von den Bukarestern gebeten worden, den Platz mit der Hacke umzugraben und Blumen zu setzen, dort, wo „dem Glücksspiel gefrönt wurde und die Prostitution blühte“. Als sie damit begonnen hätten, seien Jugendliche „mit unordentlichem Haar“ auf sie zugekommen und hätten sie als „Ratten“ bezeichnet. „Wir haben ihnen mit den Schläuchen ein paar über den Hintern gezogen und ihnen befohlen umzugraben, wo sie vorher getanzt hatten. Die hatten aber nicht einmal die Kraft dazu, die Hacke ordentlich zu halten.“

Einen Studenten, der ihn mit einem abgebrochenen Flaschenhals attackiert und ihn als „Grubenratte“ bezeichnet habe, habe er „viermal auf den Mund geschlagen“, doch zu weiteren Übergriffen habe er sich nicht hinreißen lassen. Aber auf dem Bukarester Universitätsplatz hätten doch chaotische Verhältnisse geherrscht.

Es geht ihm da wie vielen Kumpel, in seinem Kopf vermischen sich die verschiedenen Bilder: Die demonstrierenden Studenten, das halbkriminelle Schwarzhändlermilieu, das sich am Rande des Platzes und in der U-Bahnstation eingenistet hat, die Prostituierten, die (fast schon seit Menschengedenken) in der Devisenbar des nahen Interconti sitzen. An der Vermischung dieser Bilder hat das rumänische Fernsehen maßgeblichen Anteil: Alle meine Gesprächspartner bezogen sich auf Fernsehberichte, wenn sie über den Drogenkonsum und die Prostitution unter den Studenten herzogen.

Freilich spielen da auch tiefer sitzende Ressentiments eine Rolle: Das Bild von den „tanzenden Studenten“ - die Protestaktionen waren tatsächlich von Originalität und Fröhlichkeit beherrscht - steht für eine Lebensweise, die einem hart arbeitenden Bergmann, nur schwer verständlich sein mag.

Es kann nicht verwundern, daß die Bergleute auch Opfer gezielter Manipulationen wurden. Als erwiesen gilt zum Beispiel, daß damals auch im Bukarester U-Bahnbau Bergarbeitermonturen verteilt wurden. Und als Präsident Iliescu offenbar in einer Panikreaktion „die Bevölkerung“ ersuchte, „die Demokratie zu schützen“, bezogen das die Bergarbeiter, die ja schon mehrfach in der Hauptstadt aufgetreten waren, sofort auf sich. Man darf nicht vergessen, daß - nachdem die Regierung in den Morgenstunden den Universitätsplatz hatte räumen lassen - eine aufgebrachte Menge das Polizeipräsidium, das Innenministerium und das Gebäude des Fernsehens angegriffen hatte, ohne auf nennenswerten Widerstand der reichlich versammelten Sicherheitskräfte zu stoßen.

Nicht nur den einfachen Kumpeln erschien die Lage am 13.Juni als der Beginn einer Staatskrise. „Als ich diese Bilder und den Aufruf Iliescus im Fernsehen sah, begann ich sofort, die Kumpel zu mobilisieren“, erzählt Lazara Popescu, die Vorsitzende der 35.000 Mitglieder umfassenden „Liga der Bergarbeiter-Gewerkschaften Olteniens“. Die Gewerkschaft habe die Sonderzüge organisiert und auch den Empfang der Bergleute in Bukarest in die Wege geleitet - nicht in der Absicht zu prügeln, sondern „um die Ruhe wieder herzustellen“ habe man im Schiltal mobil gemacht. Zugleich räumt die Vorsitzende ein, daß „bei dieser enormen Masse von Leuten“ nicht auszuschließen sei, daß es zu „Exzessen und Übergriffen“ komme.

Die über 1.000 Menschen, die im Rahmen dieser „Exzesse und Übergriffe“ verhaftet wurden, sind inzwischen glücklicherweise wieder auf freiem Fuß. Daß der charismatische Studentenführer Marian Munteanu beinahe zu Tode geprügelt wurde, wirft kein gutes Licht auf die Kumpel aus dem Schiltal. Am passenden Gegenmythos wird bereits gearbeitet: In Wirklichkeit seien es die Kumpel gewesen, die Munteanu davor bewahrt hätten, erschlagen zu werden, behauptet eine Tageszeitung, die in der Schiltal-Metropole Petrosani erscheint. Solche Verbrüderung von Intellektuellen und Arbeitern scheint denn doch zu schön, um wahr zu sein. Im fernen Bukarest hat man davon wohl auch noch nichts gehört: Munteanu, der in einem Militärhospital liegt, soll jetzt der Prozeß gemacht werden. Die Anklage lautet, wie könnte es anders sein, auf „Aufwiegelung“.