Lieber ohne Fahrgäste - aber dafür im Takt

■ „Schienenersatzverkehr“ auf der Linie 1 zwischen Gleisdreieck und Hallesches Tor wegen Bauarbeiten: Fahrgäste am Rande des Nervenzusammenbruchs / Viel Streß trotz nur geringen Zeitverlustes / Bericht über ein leider notwendiges Übel

Kreuzberg. Ausnahmezustand auf der U-Bahn-Linie 1: Weil der 1902 erbauten Anhalter Brücke der Kollaps droht, operieren Chirurgen des Krupp-Konzerns seit Monatsanfang Tag und Nacht an dem Streckenteil zwischen Gleisdreieck und Hallesches Tor. Den noch bis zum 10. September lahmgelegten Abschnitt der bekannten Hauptverkehrsader überbrücken BVG und BVB gemeinsam durch einen bisher beispiellosen Bypass-Eingriff: 17 Schlenkis Ost Marke und fünf Doppeldecker West pendeln jeweils zu dritt und alle fünf Minuten auf den anderthalb Kilometern zwischen Gleisdreieck und Halleschem Tor entlang des Landwehrkanals. Dank einer zusätzlich eingerichteten Busspur und raffinierter Ampelschaltungen soll den Fahrgästen - selbst bei hohem Verkehrsaufkommen und trotz zweier Baustellen - ein Zeitverlust von lediglich zehn Minuten entstehen. Die allerdings haben es in sich...

Hallesches Tor, sieben Uhr morgens an einem Werktag: Aus einem Zug in Richtung Schlesisches Tor strömen etwa 70 Fahrgäste, die meisten von ihnen auf dem Weg zur Arbeit. Im Laufschritt rennen viele die Treppen hinunter. 50 Meter weiter links auf der gegenüberliegenden Straßenseite warten schon zwei Schlenkis und ein Großer Gelber, aber die Fußgängerampel zeigt Rot. Wer brav wartet, den bestraft der Busfahrer: Pünktlich im Zeittakt, aber fast leer fahren die drei Busse los, als die Ampel gerade auf Grün umspringt. Die Leute fluchen.

Eine Viertelstunde später ereignet sich eine ähnliche Szene: Drei Busse nehmen Kurs in Richtung Gleisdreieck. Besatzung: die Fahrer und lediglich drei (!) Passagiere. Zehn Sekunden später strömen etwa hundert Leute die Treppen herab und können den Bussen nur noch hinterherwinken. Warum die Fahrer stur ihren Zeittakt einhalten, obwohl sie von ihrer Warteposition aus das Einlaufen der Züge sehen können, ist allen ein Rätsel. Einige zornige Fahrgäste schieben einen provisorischen Absperrzaun beiseite und eilen über den Grünstreifen und zwischen dem fließenden Berufsverkehr hindurch zur Haltestelle. Als schließlich fast alle die Abkürzung nehmen, brechen die Autofahrer in wildes Gehupe aus.

Kein Wunder also, daß viele Fahrgäste trotz des eher geringen Zeitverlustes genervt sind. „Beschissen“ findet Ingrid Talbot, dauernd auf den Bus warten zu müssen. „Ich habe abends keine Zeit mehr zum Einkaufen und bin beim Zeitstempeln im Betrieb immer im Minus, dann muß ich nacharbeiten“, ärgert sich Christa Nikolauschke. Andere beklagen sich, früher aufstehen zu müssen.

Nachmittags, 15 Uhr, Rush-hour: Die Linie 1 steht kurz vor dem Infarkt. Im für Pendelverkehr denkbar ungeeigneten U -Bahnhof Gleisdreieck schieben sich die Massen auf den Gängen. Rolltreppen gibt es hier keine. Schlechte Karten für Behinderte und alte Leute. Eine 72jährige Frau mit Gehstock, hüftgelenkoperiert und bepackt mit zwei schweren Taschen, quält sich vom Bahnsteig über die M-Bahn-Halle die 88 Stufen zur Haltestelle hinab. Vor den Bussen wird geschubst und gedrängelt. Die alte Frau steigt als letzte ein. „Die jungen Leute haben halt Vortritt“, meint sie. Einen Platz bekommt sie erst nach Intervention eines Fahrgastes. „Konnt‘ ich doch nicht wissen, daß die operiert ist“, mosert eine junge Frau, als sie den Sitz freimacht.

Die Atmosphäre ist gereizt. Viele ziehen die geräumigeren Schlenkis aus dem Osten vor. „Die fahren nicht so aggressiv und bremsen nicht so brutal“, meint eine Frau. Außerdem öffnen die Fahrer der BVB auch die hinteren Türen, so daß beim Einstieg weniger gedrängelt wird. Fahrkarten kontrollieren sie dabei nicht - im Gegensatz zu den BVG -Fahrern. Dies wird vor allem von den Schwarzfahrern geschätzt.

Streß gibt es jedoch nicht nur auf der Linie 1. Denn auf den Pendelverkehr angewiesen ist auch, wer bisher von der Linie 7 in der Station Möckernbrücke (zwischen Gleisdreieck und Hallesches Tor) auf die U1 umsteigen wollte. Nicht selten verpassen Fahrgäste, die um 0 Uhr 44 mit dem letzten Zug aus Spandau oder Rudow kommen und Richtung Wittenbergplatz weiter wollen, den letzten Pendelbus Richtung Gleisdreieck. Der dürfte eigentlich erst um 0 Uhr 50 fahren. Aber „manche Fahrer machen schon mal fünf Minuten früher Schluß“, erklärt ein BVB-Fahrer. Wen's als Fahrgast erwischt, der steht mitten in der Nacht erst mal im Regen und weit und breit weder Taxi noch Nachtbus.

Einige Fahrgäste bleiben trotz allem cool. „Man kann ja schließlich nicht fliegen“, meint zum Beispiel Susanne Brockhoff, und Joachim Gehardy findet: „Ich werde den Frühsport im Gleisdreieck vermissen.“ Da mag ihn trösten, daß für 1991 bereits weitere Streckenunterbrechungen der Linie 1 in Planung sind.

Marc Fest